Es gibt immer wieder dies Todesfälle, die einen kurz aus dem täglichen Leben reißen. Die einen erschüttern, obwohl man die Person gar nicht persönlich gekannt hat. Doch da sie einen so lange mit ihrer Kunst begleite hat, hatte man das Gefühl, sie zu kennen. Sie bedeutete einem etwas. Vielleicht nur als Ideal, welches wenig mit dem realen Menschen zu tun hat. Doch dieses leitet einen durchs Leben, lässt einen Erfahrungen machen, die einen bereichern, zum Nachdenken bringen, den Horizont erweitern. Die starke Emotionen in einem auslösen und einen etwas über sich selber und die Welt an sich erzählt. 2016 waren es die Tode von drei für mich sehr wichtigen Künstlern die mich auf diese Art und Weise berührt und kurzzeitig den Boden unter den Füssen weggerissen haben: David Bowie, Prince und Andrzej Zulawski. Bei allen kam der Tod für mich aus heiterem Himmel. Bei allen dachte ich gerade, sie würden in eine neue Phase ihrer unerschöpflichen Kreativität eintauchen – und dann waren sie plötzlich nicht mehr da.
Gestern ist David Lynch verstorben, und ich fühlte mich wieder wie 2016. Auch hier hatte ich nicht mitbekommen, wie krank er war. Ja, ich hatte da was gelesen, aber so ernst klang das jetzt für mein Laien-Ohr nicht. Zumal er kämpferisch ankündigte, nicht kürzer treten zu wollen. Jetzt ist er nicht mehr da. Die Frage „What year is this?“ wird nie beantwortet werden. Wäre sie aber vielleicht sowieso nicht, denn Lynch erklärte nicht. Entkleidete seine Geheimnisse nicht. Er pflanzte sie in den Kopf seiner Zuschauer, in denen die Fragen gärten und zu ganz individuellen Ergebnissen führten. Was ist die Black Lodge? Wohin führt der Lost Highway? Was passiert im Mullholand Dr.? Wo ist Nikki? Wer Lynchs Filme gesehen hat, der kehrt immer wieder zu ihnen zurück. Vielleicht nicht tatsächlich auf dem Bildschirm, aber im Kopf wo Lynchs Geschichten und Bilder immer wieder wie diebisch lächelnde Dämonen auftauchen und das Denken besetzen.
Mein erster Lynch-Film war „Der Elefantenmensch“, den ich im Fernsehen sah und der mir emotional stark zusetzte. „Ich bin kein Tier! Ich bin ein menschliches Wesen!“. Sehr viel später erst sah ich sein Debüt „Eraserhead“. Große Fragezeichen, große Faszination, große Liebe für das Dunkle, das Wahnsinnige, das „Sich-nicht-fassen-lassen-wollende“. „Dune“ verstörte mich, der ich einen Film ala „Krieg der Sterne“ erwartet hatte, mit seiner seltsamen Finsternis. „Blue Velvet“ war eine Offenbarung. Ein Albtraum in dem ich selber als Jeffrey gefangen war. „Wild at Heart“ eine wahnsinnige Achterbahnfahrt, die mein Gehirn komplett auseinander purzeln ließ. „Meine Schlangenlederjacke ist ein Ausdruck meiner Individualität“. Da bekam man, was man von einem Roadmovie erwartete – und eben genau dies nicht. Da kippte eine klassische B-Film-Geschichte in einen merkwürdigen Traum und führte einen in ein Labyrinth, aus dem man nicht wieder herausfand. Ebenso wie bei „Lost Highway“, den ich lange vor mich herschob, da ich nicht wusste, ob mich das, was ich im Vorfeld hörte, mir gefiel. Tat es natürlich dann. Der Film war ein Strudel an Bildern und vor allem Emotionen, Gefühlen, merkwürdigem Kribbeln im Rückgrat, welcher mich einfach unter die Oberfläche zog. „Mullholand Dr.“ schaffte es, mich – wie viele andere – zunächst auf eine falsche Fährte zu locken, um dann den Brägen kräftig durchzuficken. Lange Zeit war es mein Lieblingsfilm von Lynch. Wenn es so etwas gibt. „Straight Story“ war dann so anders. Eine echte „straight story“. Voller Liebe, Melancholie und wieder viel, viel Gefühl. Diesmal nicht beängstigende, sondern beruhigende. Ein so schöner Film mit einer ebenso wunderschönen Musik. „Inland Empire“ dann. Ein verdammter Monolith. Drei Stunden lang. Und noch einmal zwei Stunden, wenn man den begleitenden, aus verworfenen Szenen bestehenden „Something Happend on the Way“ dazu zählt. Ein Fiebertraum, der mich stärker faszinierte als alles andere. Der mich in einen förmlichen Rausch versetzte. So stelle ich mir die Einnahme von Drogen vor. In meinem Kopf verschwammen Wachsein und Traum. Nach dem Film wusste ich nicht, was ich gesehen und was eventuell nur imaginiert habe. Ein wahnsinniges Erlebnis.
Ich glaube auf den Extras meiner „Inland Empire“-DVD ist eine kurze Szene in der Lynch mit polnischen Filmstudenten im einer stinknormalen, leeren Halle steht und einfach nur dort fragend einen Namen dort hineinruft. Und mit dieser Allerweltshandlung eine solch dichte, bedrohliche Stimmung schafft, dass mich diese kurze Szene noch heute verfolgt. Das hat ihn für mich definiert. Das Bild hinter dem Bild finden und dies dann in die scheinbare Realität hineinkriechen lassen.
Und dann ist da „Twin Peaks“. Meine erste wirklich intensive Begegnung mit ihm. Sehen konnte ich die Serie damals nicht, da sie auf RTL lief. Damals wurde RTL bei uns im Wechsel mit SAT1 gesendet. Und ich meine zu „Twin Peaks“-Zeiten war gerade SAT1 dran. Aber ein Freund konnte RTL empfangen und hatte die Serie auf Video mitgeschnitten. Auch die zweite Staffel, die dann auf Tele5 lief, die ich ebenfalls nicht empfangen konnte. Aber ich wurde ja gut versorgt. Nach der Schule wurde ein Tape eingeworfen und dann ging es nach Twin Peaks. Was habe ich die Serie geliebt. Was war sie in dieser Zeit für ein zentrales Element in meinem Leben. Irgendwie habe ich es dann geschafft an dem Nachmittag an dem die letzte Folge lief, alle Tapes durchgeschaut zu haben. Die legendäre letzte Folge sah ich dann live bei meinem Freund. Und als während dieser Folge immer mehr neue Fäden aufgemacht wurden, statt dass die vorhandenen zum Abschluss gebracht wurden, wunderten wir uns immer mehr, wie Lynch das jetzt zu einem Ende bringen wollte. Und als die Folge dann durch war, sahen wir uns hilflos und verwirrt an – und wussten in dem Moment nichts mehr zu sagen. Später waren wir gemeinsam in „Fire Walk With Me“ aka „Twin Peaks – der Film“. Eigentlich dachten wir, dass die unzähligen Fragen beantwortet würden. Was aber natürlich nicht der Fall war. Während des Filmes verließen immer mehr Zuschauer*innen den Saal (Schauburg, kleines Haus – vergesse ich auch nie). Wir blieben sitzen. Waren beglückt. Und nach dem Film standen wir noch stundenlang vor dem Kino und diskutierten, erzählten uns von den vielen kleinen Entdeckungen und Verbindungen zur Serie. Spannen den Film im Kopf weiter. Ein ungemein bereicherndes Erlebnis.
Die dritte Staffel ist nun David Lynchs Vermächtnis. Für mich das Beste und intensivste, was ich jemals im Fernsehen gesehen habe. Wobei – Fernsehen. Die Serie lief auf Wow. Wie damals mein Freund, der mir die Videokassetten geliehen hat, bekam ich die Folgen diesmal von einem Arbeitskollegen und ich sah sie größtenteils auf dem Laptop. Trotzdem war ich komplett „in der Serie“ drin. Lechzte nach der nächsten Folge. Wurde vollkommen durchgerüttelt, schockiert, verwundert, fasziniert. Die ersten beiden Folgen sah ich während einer Teamauszeit im verdunkelten Hotelzimmer, während sich die Kolleg*innen noch amüsierten. Später stellte ich fest, dass mein Kollege einige Folge vergessen, bzw. falsch benannt hatte. Weshalb ich mir dann doch widerwillig Wow besorgte. Einige Episoden verfolgten mich tagelang, ließen sich nicht mehr abschütteln (die mit Harry Dean Stanton habe ich bis heute nicht verdaut). Und natürlich endet alles kryptisch mit der Frage „What year is this?“. Ein mehr als würdiger Abschluss für Lynchs Filmkarriere. Mehr als würdig. Ein Meisterwerk. Ein Geniestreich.
Aber Lynch war nicht nur Film, sondern auch Malerei (womit ich mich jetzt mehr beschäftigen werde und endlich die Ausstellung in Oldenburg besuchen), Bildhauerei und Musik. Lynch war selber Musiker. Er nahm großen Einfluss auf die kongeniale Musik seines Hauskomponisten Angelo Badalamenti. Einen Film von David Lynch kann man nicht nur sehen, sondern auch „erhören“. Es gibt diesen typischen Lynch-Sound, den er auch bei seinen eigenen Ausflügen in die Musik pflegte und der dieselbe unter die Haut kriechende Atmosphäre kreiert. Seien es seine Solo-Stücke, die mit John Neff als BlueBOB oder als Co-Komponist und Produzent von Julie Cruise oder Chrysta Bell. Sogar auf dem Sampler mit Musik aus der dritten Staffel von „Twin Peaks“ spürt man seine Hand. Und selbstverständlich lies er es sich nicht nehmen, die Videos für seine Musik zu drehen, wie das verstörende Musikvideo zu „Crazy Clown Time“. Überhaupt gibt es hier noch viele Schätze zu heben, denn Lynch war in der kurzen Form sehr produktiv. Er schuf nicht nur die verstörende „Rabbits“-Serie, sondern noch viel mehr. Da wurde selbst der Wetterbericht zu einem Ruf aus einer parallelen Welt. David Lynch ist tot. Sein Werk und sein Einfluss leben weiter. Und sie werden weiterhin eine große Rolle in meinem Leben spielen. Danke für den Donut, David! Ich versuche nicht nur auf das Loch zu schauen.