Vor einiger Zeit berichtete ich hier über das österreichische Platten-Label Cineploit, welches sich auf „Soundtracks ohne Filme“ spezialisiert hat und führte ein Interview mit seinem Gründer Alex Wank. Generell sind Gruppen, die Musik im Retro-Soundtrack-Stil machen, immer häufiger anzutreffen. Ich denke dabei an „Zombi“, „Calibro 35“ oder die ganz wundervollen, aber leider nicht mehr existenten, „Agentenmusik“. In diese illustere Reihe stellt sich jetzt auch ein Duo aus Stuttgart, welches einen Soundtrack für einen imaginären, „verlorenen“ Kannibalen-Film aufgenommen hat. Es nennt sich „Mondo Sangue“ und besteht aus dem Komponist und Filmschaffenden Christian Bluthardt und der Musikerin Yvy Pop, die auch als Dozentin an der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien tätig ist. Außerdem arbeitet sie auch als Sprecherin und Grafikerin und hat 20 Jahre lang in verschiedenen Punkbands gesungen. Über das Internet bin ich mit Beiden in Kontakt und den Genuss einiger Kostproben ihres ersten Albums gekommen. Das war dann auch ein guter Grund für mich, um „Mondo Sangue“ etwas näher auf den Zahn zu fühlen.
Filmforum Bremen: Nachdem Eure erste Platte ja eine musikalische Hommage an den Kannibalenfilm darstellt, ist die erste Frage zwar etwas billig, aber eigentlich unvermeidlich: Welcher Film dieses ja nicht besonders gut beleumundeten Genres gefällt Euch denn am Besten?
Chris: Mein Favorit ist ganz klar „Cannibal Holocaust“. Die Antwort ist jetzt wahrscheinlich nicht besonders überraschend. Aber dieser Film ist unabhängig von irgendeinem Genre einer der verstörendsten Filme überhaupt – den vergisst man nicht so schnell. Das liegt vor allem an der Kombination aus der (bei Kannibalenfilmen ausnahmsweise) sehr guten Story, einer eindringlichen Inszenierung und der großartigen Musik von Riz Ortolani.
Yvy: Da kann ich Chris nur beipflichten. 10 Jahre – von 1972 bis 1983 – dauerte die Hochzeit der Kannibalenfilme an. Unter den fast ausschließlich italienischen Produktionen (mit exorbitant hohem Trash-Faktor!), die meist Varianten eines ähnlichen Mainplots waren, sticht CANNIBAL HOLOCAUST als DER Kannibalenfilm schlechthin heraus. Er brachte sowohl die Exploitation, die Darstellungen von Gewalt als auch die (später erst entdeckte) Komplexität dieses Genres auf einen Höhepunkt. Dabei spielten vor allem die Medien, die Rezeption, die grundsätzlichen Fragen, wo Zivilisation aufhört und Barbarei beginnt, Kolonialismus, Einverleibung und Macht eine zentrale Rolle. Mit den Mitteln der Pseudodokumentation wurden Bilder erzeugt, die den Zuschauer zutiefst verunsicherten, wo die Fiktion endet und realer Horror gezeigt wird. Und eben diese Drastik der Bilder wurde von einem der schönsten Filmscores untermalt.
Die Idee Soundtracks zu nicht-existenten Filmen zu produzieren ist ja in den letzten Jahren recht populär geworden. Ich denke da beispielsweise an das Repertoire des wunderbaren Wiener Labels Cineploit. Wie seid ihr auf die Idee für Mondo Sangue gekommen? Gab es da Vorbilder?
Chris: Die Idee zu „Mondo Sangue“ kam eigentlich erst viel später. Zunächst stand nur die Möglichkeit im Raum, zu zweit die ultimative Ode an eine bestimmte Filmnische zu schaffen. Irgendwas mit Italien musste es sein. Aber nicht einfach nur nachgemacht, etwas ganz eigenes sollte dem Universum hinzugefügt werden. Ich habe weniger an Cineploit oder ähnliche Labels gedacht (kenne sonst gar keine) als an den Film, den ich noch gerne gesehen hätte. Die Verbeugung gilt keinem bestimmten Film oder Musiker, vielmehr soll dieses fiese kleine Kannibalenfilm-Genre um einen Aspekt erweitert werden. L’Isola gesellt sich bei der nächsten 70s-Italo-Lounge-Party heimlich mit auf die Tracklist als wäre sie dort schon immer mitgeschwungen.
Yvy: Wir beide haben uns vor Jahren in Stuttgarts bester Videothek, der Filmgalerie 451, kennengelernt. Chris arbeitete dort in der Filmberatung, ich organisierte Veranstaltungen. Bei zwei Projekten, Filmmusik zu Nature Morte (naturemortefilm.com) und zum Spaghettiwestern „Lobo, der Teufel sang sein Wiegenlied“, haben wir zum ersten Mal zusammengearbeitet. Damals war klar, dass wir unbedingt mal einen kompletten Soundtrack zusammen machen wollen. Zu Filmen, die wir gern gesehen hätten, die aber nie gedreht wurden. Und letztes Jahr war es soweit.
Für Eure Platte habt ihr eine ganz eigene Hintergrundgeschichte erfunden. Da geht es um einen unveröffentlichten Film eines vergessenen italienischen Regisseurs namens Luchino Martello. Könnt ihr da etwas mehr drüber erzählen? Was hat es damit auf sich, und was hat euch dazu inspiriert?
Chris: Die Inspiration liegt grundsätzlich im italienischen Kino der goldenen 70er Jahre, vorwiegend im Exploitation-Bereich. Die Produktionsbedingungen waren teilweise genauso durchgeknallt wie die Ergebnisse, nirgends ging man derart frei und ungeniert zur Sache. Da würde doch keinem auffallen, dass es bestimmte Filmemacher wie Luchino Martello vielleicht gar nicht gibt? Der Gedanke, dass ein
solcher Knabe eben auch etwas vom kurzweiligen Kannibalen-Fame einschnappen wollte ist gar nicht so abwegig, genausowenig wie die Tatsache, dass er scheiterte und der Film nie fertig wurde. Was mich an dem Film in erster Linie interessiert hatte war: Wie hätte er wohl geklungen? Kann man über die Musik den ganzen Film erzählen? Funktioniert das? Und genau so wie in den 70er Jahren Regisseure wie Joe D’Amato irgendwann die verschiedenen Genre zusammenmixten,entstand bei uns Track für Track dieses Album, welches entlang unserer Story auch stets die Stimmung wechselt. Es ist eben ein Soundtrack.
Yvy: Luchino Martello ist ein Vehikel, stellvertretend für die zig Pseudonyme, unter denen ein und derselbe Regisseur viele Exploitationfilme drehte; und das Jahr 1978 verortet den Soundtrack auf dem Höhepunkt des Kannibalenkinos. Allerdings haben
wir von Vornherein entschieden, keinen Hoax daraus zu machen, sondern vielmehr unsere Liebe zu diesen Soundtracks als Hommage und Verbeugung vor dem Genre zu verstehen und zu kommunizieren.
Auf Eurer Platte erzählt ihr ja mit den Song-Titeln die Geschichte des fiktiven Filmes nach. Habt ihr da tatsächlich so eine Art Drehbuch für geschrieben?
Yvy: Konkret haben wir uns im Sommer 2015 getroffen und eine Synopsis eines „ultimativen“ Kannibalenfilms geschrieben – inklusive aller Klischees und Gemeinplätze. Anhand des Plots haben wir den Film in einzelne Szenen unterteilt, die wir in englisch und italienisch betitelt haben. Wir haben über die jeweiligen Stimmungen, teils sogar Instrumente, bestimmte Rhythmen und Soundmoods wie Wellen, Papageien
diskutiert. Und irgendwie waren wir schon nach zwei Stunden fertig. Wir hatten exaktdie gleiche Vorstellung, von dem, was wir machen wollen
Chris: Es gibt eine zweiseitige Outline zu dem Film. Die komplette Handlung sozusagen. Ich nehme an, dass es für die meisten Genre-Vertreter ähnlich viele Seiten als Grundlage gab. Anhand dieser Synopsis haben wir dann Stück für Stück die Songs abgeleitet. Diese wurden dann wiederum unter Einbeziehung der verschiedenen Stimmungen „im Film“ musikalisch umgesetzt.
Yvy: Das Schöne daran, man muss den Film auch nicht gesehen haben… Man versteht und „sieht“ ihn beim Hören der Platte.
Wie gingen die Aufnahmen für die Platte vonstatten?
Chris: Wie man sieht hatten wir eine recht gute und intensive Vorbereitung. Ich habe die Stücke nach und nach eingespielt, wobei hauptsächlich auf Sample-Instrumente zurückgegriffen wurde. Die Findung des Sounds wiederum hat seine Zeit gekostet, es sollte ja möglichst authentisch klingen. Der typische Nico-Fidenco-Kannibalen-Synthie liegt jetzt nicht gerade offensichtlich in der Gegend herum. Die Vocals wurden allesamt nachträglich im Studio aufgenommen.
Yvy: Chris war für die Kannibalenschar und ich für die „epischen“ Chöre zuständig. Viele Ideen entstanden auch direkt im Studio. Wenn irgendetwas noch nicht stimmig war, probierten wir uns stimmlich aus. Es hatte etwas von einem Strudel, eine Idee folgte der nächsten, 20-stimmige Opernchöre, erotisches Geröchel bis hin zu den Papageien
Chris: Mein Kollege Frederik Lietz hat dann wochenlang daran gemischt und schließlich gemastert. Hier wurde versucht, sich noch näher an den tollen Italo-Sound hinzumanövrieren, was meiner Meinung nach sehr gut geklappt hat. Großes Lob an dieser Stelle nochmal an unseren Mixmaster!
Yvy: Yes!
Wie seid ihr an Eurer Plattenlabel gekommen und wo kann man Eure Scheibe beziehen?
Yvy: Das Stuttgarter Allscore Label wird von unserem gemeinsamen Freund und Kollegen Dietmar Bosch geleitet. Wir haben ihm, der sich neben Hörspielen auch auf Scores aus den 60er und 70ern spezialisiert hat, von dem Projekt erzählt und ihm die Aufnahmen vorgespielt. Volltreffer!
Chris: Wir kennen uns bereits von anderen Projekten, beispielsweise vertone ich seit letztem Jahr die von All Score Media produzierte Hörspielreihe „Professor van Dusen“. Wir teilen außerdem die Liebe zum „schlechten Film“ und zu Filmmusik generell.
Ihr habt Eurer Werk bisher ausschließlich auf Vinyl veröffentlicht. Warum dies und gibt es Pläne eine CD-Veröffentlichung nachzuschieben?
Yvy: Wir haben uns für eine limitierte Auflage von 666 handnummerierten LPs mit Poster entschieden, um ganz nah an der Materie zu bleiben. 1978 gab es ja keine CDs und es handelt sich um eine Erstauflage. Der Charme einer Schallplatte als Collectors Edition und der Vinylsound werden dem Thema einfach gerecht. Irgendwie stand die Veröffentlichung auf CD für uns und Allscore nie im Raum.
Chris: Nichts unterstützt den Flair eines Retro-Soundtracks so sehr wie Vinyl! Das ist nur konsequent, und außerdem das einzig wahre Format für Musik. Eine CD-Veröffentlichung wird es keine geben. Die Scheibe gibt es zB bei Chris Soundtrack Corner. Man kann das Album darüber hinaus auch als mp3 kaufen.
Was plant Mondo Sangue als nächstes?
Yvy: Wir haben – während der Produktion in purer Begeisterung – einen 10-Jahresplan gemacht. Jedes Jahr veröffentlichen wir einen Soundtrack, der einem uns geliebten B-Genre huldigt. Das klingt ambitioniert, aber ich denke, das ist machbar.
Chris: Es wird auf jeden Fall mehr geben – wir haben noch einige Filmstoffe die unbedingt vertont werden müssen! Der Fokus wird zunächst auf Italien und auf die 70er / 80er-Jahre gerichtet bleiben, da gibt es einfach zu viele schöne Ecken, Kanten und Möglichkeiten. Die Spielwiese scheint unendlich groß. Nur die Cocktail-Zutaten müssen noch ausgesucht werden. Wobei ich zu einem richtig schönen, psychologischen Grusel-Giallo tendiere …
Yvy: Au ja!
Das klingt doch sehr vielversprechend. Dann freue ich mich schon sehr darauf, nächstes Jahr wieder von Euch zu hören und bedanke mich für das sehr informative und nette Gespräch.
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