DVD-Rezension: „Unter Verdacht“

unter verdachtDer gutmütige Geschäftsinhaber Philip Marshall (Charles Laughton) ist mit der schrecklichen Cora (Rosalind Ivan) verheiratet, die ihm das Eheleben zur Hölle macht. Als Philip die junge Mary (Ella Raines) kennenlernt, ist er das erste Mal seit langem wieder glücklich und genießt die Begleitung der jungen Frau, die ihm ebenfalls liebevolle Gefühle entgegen bringt. Philip beschließt, sich von Cora scheiden zu lasen, doch diese lehnt seinen Vorschlag vehement ab. Philip fügt sich in sein Schicksal, beendet seine Treffen mit Mary und versucht mit Cora ein normales Leben zu führen. Doch als aber diese voller Eifersucht ankündigt, Marys Leben zerstören zu wollen, geschieht ein Unglück…

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Wie schon „Das schwarze Buch“ (Kritik hier) scheint „Unter Verdacht“ so gar nicht in eine Reihe, die sich „Film Noir“ nennt zu passen. Handelt es sich hierbei doch um eine Geschichte, die in London um 1902 herum spielt und somit ganz weit entfernt ist von den Gangstern, Hard-boiled Detektiven und Stadtschluchten im Amerika der 40er Jahre. Tatsächlich ist der Film aber zeitlos und könnte genauso – sieht man einmal von den Kostümen und Kutschen ab – auch in jedem anderen Jahrzehnt oder sogar im hier und jetzt spielen. Inszeniert wurde der Film auch von einem ausgewiesenen Noir-Spezialisten, dem Deutschen Robert Siodmak, der kurz zuvor mit „Zeuge gesucht“ (Kritik hier) bereits seinen ersten großen Film Noir abgeliefert hatte.

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„Unter Verdacht“ lebt ganz von der erstaunlich zurückgenommenen Darstellung Charles Laughtons. Laughton hat in seinen Filmen immer einen Hang gehabt, seine Figuren mit dem ganz breiten Pinsel zu malen und sie larger-then-life auszugestalten. Umso mehr verwundert ist, wie still und unaufdringlich er den sympathischen Philip spielt. Anders würde der Film auch gar nicht funktionieren. Der Zuschauer muss Philip in sein Herz schließen. Wie sollte auch sonst glaubhaft vermittelt werden, dass sich die bezaubernde Ella Raines mit der Siodmak schon „Zeuge gesucht“ gedreht hatte, sich in den älteren, fettleibigen Laughton verliebt. Doch Laughton spielt so nett, bescheiden und vor allem liebenswürdig, dass man bereit ist zu glauben, dass die Raines tatsächlich tiefe Gefühle für ihn hegt. Und auch der Zuschauer ist ganz auf der Seite des Mörders, wodurch der Film seine ambivalente Spannung bezieht. Denn hier wird er gezwungen, nicht der Enttarnung des Täters, sondern dessen Davonkommen entgegen zu fiebern. So stellt Siodmak das moralische Grundgerüst eines Hollywoodfilms völlig auf den Kopf. Der Mörder ist unser Held, der Polizist der fast schon manisch versucht, ihn hinter Gitter zu bringen der Bösewicht.

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Um eine optimale Wirkung zu erzielen, muss ein Film wie „Unter Verdacht“ auch in den Nebenrollen bestens besetzt sein, was hier der Fall ist. Philips schreckliche Ehefrau wird von Rosalind Ivan gespielt, die in Fachkreisen den Spitznamen „Ivan the Terrible“ erhielt, da sie auf solche Rollen abonniert war. Auch hier macht sie Philip das Leben zur Hölle und torpediert all seine Versuche, mit ihr ein normales Leben zu führen. Aber aus ihr sprießt nicht reine Bosheit, sondern es liegt einfach in ihrer Natur, durch ihre absolute Egozentrik im Zwischenmenschlichen nicht unbedingt geschickt vorzugehen. Eine wunderbare Leistung erbringt auch der großartige Henry Daniell als Nachbar Philips. Ein trunksüchtiger Tunichgut, der seine liebe Ehefrau schlägt und sich lieber in Tavernen als in einem Job aufhält. Henry Daniell spielt ihn zwar fies, aber irgendwo auch nicht gänzlich unsympathisch. Sein Mr. Simmons weiß, dass er ein schlechter Charakter ist, aber das ist ihm herzlich egal. Er hat aufgeben, so zu tun, als wäre er ein guter Mensch, der zu etwas taugt. Lieber konzentriert er sich auf das, was er kann: Auf krummen Wegen sich sein Stück vom Kuchen zu sichern. Und obwohl Simmons eine verabscheuungswürdige Figur ist, spielt Daniell ihn mit einem Hauch von Melancholie und einer arroganten Eleganz, dass man ihm dabei gerne zuschaut. Interessanterweise stammen fast alle Schauspieler dieser amerikanischen Produktion aus London, wo auch der Film spielt, was den Thriller leicht an die frühen Hitchcock-Filme erinnern lässt.

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Auch wenn „Unter Verdacht“ gerade im Mittelteile ein paar Längen aufweist, so sind es zwei Szenen, die ihn über den Durchschnitt heben und im Gedächtnis verankern. Die erste ist eine Rekonstruktion des Verbrechens. Hier übernimmt der Inspektor die Rolle des Drehbuchautoren. Er erzählt die Vorgänge der unheilvollen Nacht, er sorgt für die richtige Stimmung, indem er eigenhändig die Beleuchtung ändert und er fertigt auch den Schnitt an, indem er in seiner Erzählung bestimmte Einstellungen und Einzelheiten/Großaufnahmen beschreibt. So entsteht vor dem geistigen Auge des Zuschauers eine Szene, die das Verbrechen zeigt, ohne das darin die Akteure tatsächlich auftreten. Dies geschieht so lebhaft, dass es nicht verwundert, dass am Ende Charles Laughton das einzige Mal in diesem Film wirklich die Fassung verliert. Wobei es eine interessante Variante wäre, wenn sich die wahren Ereignisse – die dem Zuschauer vorenthalten werden – sich tatsächlich so abgespielt hätten, wie von Philip ausgesagt. Es also in Wirklichkeit keinen Mord gegeben hätte und – als eine Variation von Victor Hugos „Les Misérables“ – die hier gezeigte Fantasie des starrsinnigen Inspektors die ganze folgende Tragödie und damit auch den zweiten (?) Mord ausgelöst haben.

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Nach besagtem zweiten Mord folgt eine weitere brillante Szene, die scheinbar 30 Jahre später in der Louis-de-Funés-Komödie „Jo – Hasch mich in bin der Mörder“ nochmals neu interpretiert wurde. Philip hat einen Leichnam hinter dem Sofa versteckt. Doch seine Familie nebst Freunden kommt unerwartet zurück. Sein Sohn setzt sich mit seiner Verlobten auf das Sofa, als diese plötzlich aufschreit und behauptet, eine Hand hätte ihren Knöchel berührt. Laughtons Gesicht erstarrt in einem Lächeln und man sieht in seinem Gesicht, wie sich hinter der lächelnden Fassade gerade seinen bisheriges Leben abläuft, von dem er in diesem Augenblick Abschied nimmt. Ganz große Schauspielkunst.

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Obwohl „Unter Verdacht“ im Mittelteil einige Längen aufweist, sind es die hervorragenden Schauspieler und zwei unvergessliche Szenen, die ihn unvergesslich machen. Insbesondere Charles Laughtons ungewöhnlich zurückhaltendes und liebenswertes Spiel ist besonders hervorzuheben, da der Film ohne dieses in sich zusammenbrechen würde. Ebenfalls interessant ist das Spiel mit der Moral und die Möglichkeit, dass der Film auch zeigen könnte, wie ein redlicher Mann durch den übertriebenen Diensteifer eines Polizisten zum Mörder gemacht wurde.

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Die Bildqualität der DVD ist zwar nicht überragend, aber doch immerhin gut. Der Ton liegt in Deutsch und gut verständlichem Englisch vor. Deutsche Untertitel können eingeblendet werden. Ferner befindet sich auch eine knapp einstündige Radio-Hörspielfassung des Filmes mit auf der Scheibe, bei welchem Laughton, Raines und Ivan ihre Rollen aus dem Film wiederholen. Die DVDs der Reihe „Film Noir“ zeichnen sich in der Regel auch immer durch informative Booklets aus. Da mir hier allerdings nur die DVD an sich ohne Verpackung zur Rezension vorlag, kann ich hierzu leider keine Angaben machen.

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1 Antwort zu DVD-Rezension: „Unter Verdacht“

  1. Und auch der Zuschauer ist ganz auf der Seite des Mörders, wodurch der Film seine ambivalente Spannung bezieht. Denn hier wird er gezwungen, nicht der Enttarnung des Täters, sondern dessen Davonkommen entgegen zu fiebern.

    Tja, wenn da nur der Production Code nicht wäre …

    Im weniger bekannten, aber ebenfalls interessanten ONKEL HARRYS SELTSAME AFFÄRE, der in der Handlung Parallelen zu UNTER VERDACHT aufweist, schlug sich Siodmak mit dem Problem herum, ob und wie man einen sympathischen Mörder davonkommen lassen kann, obwohl es vom Code untersagt wurde. Am Ende gibt es einen Kompromiss, der die Regeln einhält, aber gleichzeitig Siodmaks „eigentlichen“ Schluss durchscheinen lässt.

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