Filmbuch-Rezension: Christian Keßler “Das wildeste Auge – Horror und Science Fiction all’italiana (1957-1994)“

Es war im Jahre 1997 als ich in dem damals an der Martinistr. beheimaten Filmladen „Cinemabilia“ das Buch „Das wilde Auge“ von Christian Keßler entdeckte. Mit 49 DM war es für mich damals nicht gerade günstig. Ich kannte und mochte bereits Christians Artikel in der Splatting Image und „Das wilde Auge“ eröffnete mir weitere neue (Film)Welten. Zuhause bemerkte ich, dass jemand bereits in das Buch hinein gekritzelt hat. Ein Scherz eines Mitarbeiters oder der Autor selbst? Damals wusste ich nicht, dass Christian auch in Bremen wohnte. So blieb der Schriftzug all die Jahre ein Geheimnis für mich, welches sich erst im Februar 2019 aufklärte. Da hatten mein Mitstreiter Stefan und ich Christian in unserer Film-Reihe Weird Xperience im Cinema im Ostertor zu Gast hatten, wo er sein damals neues Buch „Endstation Gänsehaut“ vorgestellte. Da hatte ich „Das wilde Auge“ im Gepäck und konnte ihn bei den einleitenden Worten direkt danach gefragt. Er konnte sich da zwar nicht mehr dran erinnern, erkannte aber seine Handschrift.

„Das wilde Auge“ war für mich eine Offenbarung, und ich las es mehr als einmal. Man muss sich auch vor Augen halten, dass es damals eines der ersten deutschsprachigen Bücher zum Thema italienischer Genrefilm war – und meines Wissens auch das erste, welches seinem Thema mit Liebe und Respekt begegnete. Das im Corian Verlag erschiene „Das wilde Auge“ hatte scheinbar keine riesige Auflage und wurde auch nie nachgedruckt, weshalb es in Sammlerkreisen rasch zum gesuchten Objekt wurde und bei Ebay und Konsorten locker Preise im mittleren dreistelligen Euro-Bereich aufgerufen wurden. Kein Wunder also, wenn in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder der Wunsch geäußert wurde, es möge doch endlich mal neu aufgelegt werden.

Diesem Wunsch wurde nun entsprochen. Nachdem Christian Keßler im vorbildlichen Martin Schmitz Verlag bereits zahlreiche Bücher, u.a. zum amerikanischen Hardcorefilm, dem Horrorfilm an sich, dem Film Noir, dem Giallo und dem italienischen Polizei- und Mafiafilm veröffentlicht hatte, ist nun mit „Das wildeste Auge“ eine Revision seines Klassikers erschienen. Dabei deutet der Titel schon an, dass es sich nicht um einfachen Nachdruck handelt. Im Gegenteil: „Das wildeste Auge“ ist ein vollständig neues Buch, welches sich allerdings den Themen des Vorgängers widmet. So übernimmt das Buch nicht die Struktur des alten Buches, welches in thematische Kapitel eingeteilt war, sondern jene der letzten Veröffentlichungen.

Christian nimmt sich Jahr für Jahr vor und stellt jene in diesen in die Kinos gekommen, relevanten Filme chronologisch vor. Es beginnt mit „Der Vampir von Notre-Dame“ aus dem Jahre 1957 und endet mit „Dellamorte Dellamore“ aus dem Jahre 1994. Dies ist einerseits ein perfekter Schlusspunkt, andererseits ein wenig schade, da es danach ja noch einige wenige Horrorfilme aus Italien gab, man denke z.B. an „Wax Mask“ oder „Terza Madre“. Mein persönlicher Tipp wäre zum Beispiel „Across the River“ von 2013. Aber es passt schon, denn „Dellamorte Dellamore“ war der letzte Höhepunkt einer fast 40-jährigen Reise. Damals glaubten wir Fans noch, er wäre der Auftakt einer neuen Welle an italienischen Genrefilmen. Tatsächlich leider kam diese dann nicht, und das Genre wurde in Italien nur noch sporadisch bedient.

Christians Ansatz bleibt der eines Beobachters. Er ergeht sich nicht in tiefgreifenden Analysen der von ihm vorgestellten Filme, sondern beschreibt, was er dabei empfunden hat, was er an den Filmen mochte und manchmal auch, was nicht. Dem werden Informationen/Ankedoten über die beteiligten Personen und Produktionsumstände beigestellt, sowie eine Einordnung der Filme in die Geschichte des Genres, wofür Christian als langjähriger Experte auf dem Gebiet natürlich prädestiniert ist. Vorgetragen im typisch locker-humorvollen Keßler-Sound, den er über die Jahre perfektioniert hat.

Christian beschränkt sich hier ganz auf die beiden Genres Horror (wobei dieses auch die berüchtigten Kannibalenfilme beinhaltet) und Science-Fiction. Andere Strömungen des phantastischen Films kommen nur zum Zuge, wenn sie Horrorelemente besitzen, wie beispielsweise Mario Bavas Peplum „Vampire gegen Herakles“. Der Ansatz alle Filme chronologisch zu präsentieren ist höchst spannend und aufschlussreich. Denn er zeigt sehr deutlich, dass das italienische Genrekino in Wellen funktioniert, welche durch erfolgreiche Filme – zumeist aus Hollywood, aber nicht nur – ausgelöst werden und schnell zu einer wahren Flut führen, die dann aber ebenso schnell auch wieder verebbt. Dies wäre auch einmal eine ganz eigene filmhistorische Untersuchung wert.

„Das wildeste Auge“ ist wieder einmal ein Buch, in dem man stundenlang versinken kann. Welches man entweder von vorne nach hinten liest oder sich auch immer wieder hier und dort Abschnitte oder einzelne Filme herauspicken kann. Und welches sich obendrein hervorragend dazu eignet, die eigene „Guck-Liste“ zu vervollständigen. Als nächstes soll, wie man hört, dem spanischen Horrorfilm eine ähnliche Behandlung angediehen werden. Ein weiterer Grund zur Freude!

Christian Keßler “Das wildeste Auge – Horror und Science Fiction all’italiana (1957-1994)“, Martin Schmitz Verlag, 360 Seiten, gebunden, farbige Abbildungen, € 36,00

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