Meine zweiter Tag auf dem Internationalen Filmfest Oldenburg begann ganz entspannt im cineK. Ich war so angereist, dass ich weder lange auf den für mich ersten Film warten, noch kurz vor Knapp Schweiß auf der Stirn haben musste, dass ich es noch rechtzeitig schaffe. So ließ ich mich gemütlich im Foyer des cineK nieder, platzierte meinen Rucksack und besorgte mir erst einmal einen Kaffee. Als ich wieder zu meinem Tisch zurück kehrte, war dieser plötzlich besetzt. Nicht von irgendjemanden, sondern vom Ehrengast des Festivals Dominik Graf! Das war dann ein absoluter „StarStruck“-Moment für mich. Dominik Graf war in den 80ern einer der ersten Namen, die ich mir gemerkt habe, wenn im TV-Krimi der Abspann lief. Da war mir schnell klar, dass wenn mir etwas besonders gut gefiel, die Regie sehr häufig von eben jenem Herrn Graf war. Später im DVD-Zeitalter sammelte ich dann alles zusammen, was ich von ihm in die Finger bekam. Entdeckte großartige Filme wie „Der Felsen“ oder „Die Freunde von Freunden“, aber auch Kracher wie „Der Skorpion“ oder „Eine Stadt wird erpresst“. Kurz: Ich bin Fan. Auch von seinen Essay-Filmen. Und dieser Mann fragte mich, ob es okay sei, wenn er und seine Begleitung sich an meinen Tisch setzen würden. „Ja, klar“ war das Einzige, was ich raus brachte. Da ich was so etwas angeht tatsächlich extrem schüchtern bin und mich niemanden aufdrängen möchten, blieben diese beiden Worte auch die einzigen, die ich mit ihm wechselte. Als stummes Mäuschen hörte ich noch gespannt zu, was er seiner Begleitung vom Filmfest über Filmfinanzierung berichtete, dann übernahm besagte Begleitung komplett das Gespräch, und kurz darauf ging es für mich auch schon ins cineK Studio.
Hakki – Der türkische Film „Hakki“ handelt von einem älteren Familienvater, der seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht damit verdient, dass er Touristen kleine Andenken verkauft. Eines Tages findet er beim Freilegen der Wurzel eines alten Baumes in seinem Garten eine antike Statue. Der Ausweg in ein besseres Leben? Mithilfe eines Kollegen macht er sich auf die Suche nach einem Händler. Dieser kann nur lachen über die Summe, die sich die Beiden erhoffen und speist sie mit sehr viel weniger ab. Enttäuscht überlegt sich Hakki, dass auf seinem Grundstück vielleicht noch weitere Schätze verborgen sein könnten, und er macht sich heimlich auf die Suche. Diese wird immer obsessiver und Hakki wird immer paranoider. Als sich herausstellt, dass der Händler ihn übers Ohr gehauen hat und seine Statue in Wirklichkeit mehrere Millionen Euro wert war, wird die Suche zu einer krankhaften Obsession, an die Hakki langsam Freunde, Familie und schließlich auch alles andere verliert. Der Film funktioniert so gut, weil er sich Zeit nimmt, dem Publikum Hakki vorzustellen. Ein ganz normaler, freundlicher Mann, der liebenswert daherkommt, der aber auch jeden Tag um sein kleines Einkommen kämpfen muss. Gesegnet ist er mit einer liebenden Ehefrau, einer tollen Tochter und einem Sohn, der woanders studiert und der sich von Zuhause – sehr zu Hakkis Bedauern – bereits abgenabelt hat. Erst langsam, dann immer drastischer verliert sich Hakki in seinem Wahn, dass das Leben für ihn eine Art „Belohnung“ reserviert hätte. Dass das große Glück nur noch ein paar Spatenstiche entfernt wäre. Und auch, dass ihm alle sein „versprochen Glück“ wegnehmen wollen. Die Spirale dreht sich immer schneller, Hakki baut große Stollen unter seinem Grundstück und am Ende bleibt einem einen dicker Kloß im Hals. Eine gute Ergänzung zum thematisch ähnlichen Film „$$$“, den ich am Vortag sah und in dem es um die Sucht nach Pferdewetten ging. Auch wenn „Hakki“ in seiner Konsequenz noch düsterer war.
Die anschließende Q&A mit Regisseur Hikmet Kerem Özcan war wieder einmal sehr interessant, wenngleich auch leider aufgrund seines harten Akzents nicht immer leicht zu verstehen. Aber trotzdem toll, dass er da war und sich den Fragen des Publikums stellte.
Nach einer kleinen Essenspause, sollte es mit „Swing Bout“ im cineK Studio weitergehen. Da ich dort einer der Ersten war, konnte ich mich auf meinem Lieblingsplatz niederlassen. Dann füllte sich der Saal rasch und plötzlich hörte ich hinter mir zwei Personen, die sich wunderten, weshalb ein Dritter denn hier im Kino sitzen würde, er wolle doch „Swing Bout“ schauen. Da wurde ich hellhörig. Der Saal sei gewechselt worden. Aber nichts genaues wusste niemand. Also packte ich schnell meine sieben Sachen und hastete Richtung Ausgang, wo ich nachfragte, was denn jetzt hier los sei. Jaja, die Kinosäle seien spontan gewechselt worden. Auf meine Nachfrage, warum einem das niemand erzählen würde, kam die lapidare Antwort: Na, mache ich doch gleich. Kein Vorwurf hier, dass an die Nachfrage angepasst flexibel die Kinosäle gewechselt wurden, zumal die ja direkt gegenüber in der selben Etage sind. Nur die Kommunikation hätte ruhig schon beim Einlass erfolgen können. Also ins kleine cineK Muvi, welches direkt gegenüber ist und dort auch noch einen recht guten Platz ergattert. Kurz darauf erschienen dann auch Sinead O’Riordan, Produzentin und Darstellerin, und Chrissie Cronin, die in der Rolle der Gegenspielerin der Hauptfigur zu sehen war. Beide warnten schon davor, dass der Film nicht untertitelt sei und daher der irische Slang nur schwer zu verstehen. Beim Q&A des ersten Screenings hätte das Publikum gemeint, es hätte gerade mal so 50% verstanden, der Story aber trotzdem folgen können.
Swing Bout – Als Swing Bout bezeichnet man Boxkämpfer, die nur dann zum Einsatz kommen, wenn z.B. durch ein frühes KO die Hauptkämpfe zu früh enden und die gebuchte Sendezeit noch gefüllt werden muss. D.h. die Kämpfer (oder hier Kämpferinnen) bereiten sich den ganzen Abend auf einen Kampf vor, der vielleicht gar nicht stattfindet. Und natürlich setzen sie all ihre Hoffnung darauf, sich zeigen zu dürfen und von den großen Promotern entdeckt zu werden. In diesem Spannungsfeld spielt der Film. Er folgt der jungen Boxerin Tony, die diese Chance erhält, doch bevor es in den Ring geht, erfährt sie, dass es hinter den Kulissen einen Deal gibt, und sie in ihrem Kampf zu Boden gehen soll. In den Umkleideräumen unten in den Katakomben prallen die Konkurrentinnen aufeinander, ist die Anspannung zum Greifen nah. Da ist die coole, großmäulige Vicki, die sich mit ihrer arrogant-aggressiven Art eine verängstigte Seele schützt. Die Manager und Trainer, die sich um ihre Schützlinge kümmern oder diese manipulieren wollen. Hätte sich Regisseur Maurice O’Carroll darauf konzentriert, es hätte ein ganz großer Film werden können. Denn das, was O’Carroll bei „Swing Bout“ richtig macht, das macht er auch richtig gut. Das Sounddesign, die beinahe körperlich spürbare Spannung unten in den Katakomben. Die Schauspielerinnen, die die Boxerinnen spielen. Die kleinen und großen Konflikte untereinander. Die Charakterzeichungen der Boxerinnen und vor allem die tolle Hauptdarstellerin Ciara Berkeley. Das ist alles ganz hervorragend. Leider stellt sich O’Carroll selber ein Bein, da er unbedingt noch eine Crime-Handlung um den kriminellen Box-Promoter Micko und dessen bulligen Bruder Jack einbauen muss. Beide wirken wie aus einem anderen Film. Frank Prendergast legt seinen Micko eher cartoonhaft an, Ben Condron als Jack verdient sich den Tom-Sizemore-Gedächtnispreis. Das ist alles höchst unterhaltsam und gerade Prendergast sieht man gerne zu, aber es fühlt sich eben an wie ein ganz anderer Film, der nicht mit der intensiv-realistischen Geschichte der Swing-Bout-Boxerin Tony zusammengeht. Der möchte man eigentlich viel lieber weiter folgen, statt immer wieder durch Episoden abgelenkt zu werden, die man eigentlich bei einem Tarantino-Epigonen erwarten würde. Trotzdem ist „Swing Bout“ definitiv einen Blick wert.
Nach dem Film wartete das Publikum dann auf die Q&A mit O’Riordan und Cronin. Aber nichts geschah. Stattdessen sah man den Desktop des Computers, von dem der Film abgespielt wurde, auf der Leinwand. Irgendwann verließen die ersten Leute den Saal. Bald darauf wurde es auch mit zu bunt, und auch ich ging hinaus. Dort stand eine junge Frau vom Filmfest-Team, die ich fragte, ob denn die beiden Damen noch zur Q&A kommen würde. Oh nein, die kämen nicht mehr. „Meinen sie, ich sollte reingehen und das mal ansagen?“. Angesichts dessen, dass im cineK Muvi noch so einige saßen, erwiderte ich, das sich das für eine gute Idee halten würde und machte mich auf in den Theaterhof.
Three – Ein Horrorfilm aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, der von einer Frau, Nayla Al Khaja, gedreht worden war. Das versprach höchst interessant zu werden. „Three“ erzählt im Grunde eine Variante des Klassikers „Der Exorzist“. Nur, dass hier keine katholischen Priester gegen einen Dämon kämpfen, sondern muslimische Mullahs gegen einen Djinn. Daneben gibt es noch einen Jugendpsychiater als Vertreter der westlich aufgeklärten Welt, der nicht an das Übernatürliche glaubt und im entscheidenden Moment den Mullahs im Weg steht. Gespielt wird dieser Dr. Mark Holly von Jefferson Hall, der auch co-produzierte. Große Innovationen sollte man nicht erwarten. Die Geschichte bewegt sich auf altbekannten Gefilden. Nur, dass es hier die Religion des Islam ist, welcher als Retter in der Not auftritt, und nicht die katholische Kirche. Was einen höchst spannenden Perspektivwechsel ergibt und auf einer Metaebene enthüllt, wie reaktionär das Vorbild von Friedkin ist und im Grunde christliche Propaganda verbreitet. Man kann aber auch in „Three“ hineininterpretieren, dass es einen guten (die Mullahs, die den Djinn bekämpfen) und einen bösen (die mysteriösen Geistliche, die irgendwo am Rande der Wüste Zuhause sind und das Böse scheinbar erst in die Welt holen) Islam gibt. Quasi in Abgrenzung zu Islam und Islamismus. Diese Spur wird aber nicht unbedingt konsequent verfolgt. Auch ist zunächst recht offensichtlich, dass der arme Junge, um den es geht, schwer in der Pubertät steckt und das nicht unbedingt etwas mit „Besessenheit“ zu tun hat. Auch wenn die tiefgläubige Schwester seiner Mutter das behauptet und darauf drängt, ein Austreibungsritual an ihm durchzuführen. Dies wird wie gesagt von einer zwielichtigen und etwas unheimlichen Gemeinschaft irgendwo am Rande der Wüste ausgeführt. Und durch eben dieses Ritual fährt erst der Djinn in den Jungen. Auch hier kann man eine Metapher für Radikalisierung hineinlesen. Die Rolle des Arztes Dr. Holly wird von Hall sehr überzeugend gespielt, ist aber etwas beliebig. Er ist der Zweifler, der die Wahrheit nicht sehen will und sich immer wieder auf seine Wissenschaft und Aufgeklärtheit zurückzieht. Der den „wahren“ Glauben nicht akzeptiert und letztendlich wenig hilfreich in der Bewältigung der Probleme ist. Spannender wäre da schon die Figur der konservativ-gläubigen Schwester, die sehr zwiespältig agiert und bei der man häufig das Gefühl hat, sie würde eine sehr viel größere Rolle in der Geschichte um den besessenen Jungen spielen, als sie es im Film dann scheinbar auch tut. Als Horrorfilm ist „Three“ recht generisch und reiht sich eher unauffällig in die Schar der vielen Vorgänger ein. Als Metapher lädt er zum Diskutieren ein, auch wenn die genretypische Schlusspointe dann gegen den Metapheransatz arbeitet und wie ein reines Zugeständnis an altbekannte Horrorfilmklischees wirkt.
Damit endete mein zweiter Tag in Oldenburg. Ich überlegte noch kurz, ob ich mir in cineK noch in der Mitternachtsschiene noch „One-Way Ticket to the Other Side“ anschauen sollte, doch dazu hätte ich noch eine fast eine Stunde warten müssen und angesichts dessen, dass ich langsam müde wurde und noch den Heimweg über die Autobahn nach Bremen vor mir hatte, beschloss ich dann doch vernünftig zu sein.