Blu-ray-Rezension: „Sohn der weissen Stute“

„Es war einmal vor langer Zeit, da stand in einem Land so weit von hier, fast schon am Höllentor, eine alte Zerreiche. Sie hatte 77 Wurzeln und 77 Äste. Auf den 77 Wurzeln standen 77 Drachen. Auf den 77 Ästen saßen 77 Raben… Hör lieber zu, mein Sohn“, sprach die Weiße Stute, „auf dass die Drachen dir nicht die Seele stehlen und dir die Raben nicht die Augen aushacken! Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten drei Söhne, alle groß und stark. Sie lebten glücklich und zufrieden, bis sie die Warnungen des Königs missachteten und die Kette des Drachen zerbrachen. Und über uns brach die Hölle herein… (Text: Bildstörung)

Über „Der Sohn der weißen Stute“ zu schreiben ist nicht einfach, denn es fehlen einem oftmals wie Worte, um die Bilder zu beschreiben, die Marcell Jankovics auf die Leinwand zauberte. Zu ungewöhnlich wirkt dies alles. Denn Regisseur und Animator Marcell Jankovics fand hier eine Bildsprache, die irgendwo zwischen Kinderbuchillustration, Heiligenbildern und Pop-Art liegt. Die teilweise abstrakt wirkenden, grellbunten Bilder übermannen einen förmlich, und man weiß nie genau, wohin man sein Augenmerk legen soll – und dann sind sie auch schon wieder verschwunden. Es fällt zunächst schwer sich auf diese neue Sehgewohnheit einzulassen. Die Fülle an Formen, Farben und Details überfordert einen manchmal. Vor allem wenn sie mit ungeheurer Dynamik und Kraft über einen hinwegrollen. Das Auge muss sich schließlich erst einmal an diesen seltsamen Stil gewöhnen. Als ich den Film erstmals sah, war ich erschöpft von einem anstrengenden Tag Mitten in der Pandemie, der mit HomeOffice, HomeSchooling und unnötigen Ärger hier und dort seinen Tribut forderte. Schon ein wenig schläfrig warf ich „Der Sohn der weißen Stute“ in den Player, und so erwischte mich der Film in einem Zustand, der die Rezeption des Filmes perfekt unterstützte. Bald schon verabschiedete ich mich von dem Vorhaben der (im Grunde eigentlich simplen) Handlung folgen zu wollen. Ich ließ mich ganz in das Geschehen hineinsaugen, welches mich auf hypnotische Weise in eine dämmerige Zwischenwelt aus Schlafen und Wachen entführte, die mich immer mehr faszinierte. Die seltsamen, teilweise naiv anmutenden Bilder nahmen von mir Besitz und irgendwann konnte ich nicht mehr sagen, ob ich nicht doch eingenickt war und im Kopf die Geschichte weitergesponnen hatte. Als ich später über den Film recherchierte, fand ich heraus, dass genau dies auch die Wirkung war, die Marcell Jankovics zu erreichen hoffte. „One of Marcell Jankovics’s objectives was to make his film feel like a dream or trance. This wasn’t merely achieved through the visuals: the meditative chant „ommmm“ can often be heard on the soundtrack, and Mari Szemes was asked to speak silently and elongate her vowels when voicing the White Mare, giving her expository narration a bedtime story-like quality.“ So steht es in der Trivia-Sektion der IMDb zu diesem Film. Und ich habe aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen keinen Grund dies anzuzweifeln (auch wenn man mit Infos aus der IMDb immer etwas vorsichtig umgehen sollte).

Die Handlung des Filmes setzt sich aus dem Volksmärchen „Fehérlófia“ (so auch der Originaltitel des Filmes), verschiedener Varianten dieser Geschichte, weiterer ungarischen Volksmärchen zusammen. All diese Einflüsse wurden von Marcell Jankovics in seinem Drehbuch zusammengefasst und zu einer Geschichte verwoben. Diese ist im Grunde – wie es alle Volksmärchen sind – recht simpel. Der Held Fehérlófia (Baumausreißer) macht sich auf den Weg, um drei Prinzessinnen vor einem schier übermächtigen Feind zu retten. Dabei trifft er seine beiden Brüder und muss beweisen, dass er der Stärkste ist. Er muss sich eines hinterlistigen Gnoms erwehren und am Ende Gnade walten lassen. Diesem einfach geflochtenen Handlungsfaden kann man im Grunde – und wie ich bei einer zweiten, wacheren Sichtung feststellte – leicht folgen, auch wenn man häufiger das Gefühl hat, dass einem vielleicht die eine oder andere Allegorie und Anspielung durch die Lappen gegangen ist.

Was durchaus der Fall sein kann, denn da man hierzulande die literarischen Vorbilder nicht kennt und auch mit der Geschichte Ungarns vielleicht nicht so vertraut ist, ist es gut möglich, dass man solche Feinheiten nicht erkennt. Dies sollte allerdings dazu anreizen, sich einmal mit der Historie des Landes und mit seinen Mythen auseinanderzusetzen. Wie generell „Der Sohn der weißen Stute“ mit erneutem Anschauen noch einmal mehr zu gewinnen weiß. Einige Allegorien sind aber auch für den Nicht-Ungarn gut zu verstehen. So sind die drei Drachen, die Baumausreißer besiegen muss, klar als zivilisatorische Auswüchse und Gefahren zu erkennen. Besonders deutlich beim zweiten Drachen, der im Grunde eine gewaltige Kriegsmaschine ist, mit Kanonenrohren und Bomben. Und dem dritten Drachen, der eine computervernetzte, moderne Stadt (dies bereits 1981!) darstellt. Hier kann man Jankovics Einstellung entweder als Technologie-kritisch oder als etwas sentimental-konservative Rückbesinnung auf „die gute alte Zeit“ verstehen, in der Traditionen stärker als der Fortschritt sind. Beides ist möglich.

Die Blu-ray, die nun von Bildstörung am 07. Mai als mittlerweile 38. Folge in der ohne Ausnahme zu empfehlenden Reihe „Drop-Out“ veröffentlicht wird, ist wieder einmal makellos. Der Film selber beruht auf dem neu restauriertem 4K Master, welches von dem US-amerikanische Filmverleih Arbelos Films gemeinsam mit dem Filmarchiv des nationalen ungarischen Filminstituts (NFI Filmarchívum) im Jahre 2019 erstellt wurde und dann auf diversen Festivals gezeigt wurde. Der Ton liegt auf Ungarisch mit deutschen Untertiteln vor. Auf einer Bonus-DVD befinden sich folgende Extras: Der für den Oscar-nominierte Kurzfilm „Sisyphus“ von 1974 (3 Min.) und der in Cannes mit der Goldenen Palme für den besten Kurzfilm ausgezeichnete „Kampf“ von 1977 (2 Min.). In einem aktuellen Interview von 2020 erzählt Regisseur Marcell Jankovics viel Interessantes über sich und den Film (38 Min.). Und als ganz besonderes Extra gibt es eine abendfüllende Dokumentation über das Filmstudio, welches „Der Sohn der weißen Stute“ und weitere legendäre ungarische Animationsfilme herstellte: „Pannónia Anno –Geschichte(n) eines Filmstudios“ von Péter Szalay (98 Min.). Und zu guter Letzt gibt es noch ein sehr informatives, analytisches Booklet. Dieses wurde von Dr. Jennifer Lynde Barker, Associate Professor, Chair of the English Department, and Advisor for the Film Studies Minor an der Bellarmine University verfasst und aus dem Englischen von Olaf Möller übersetzt.

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