Blu-ray-Rezension: „The Wild Boys“

Fünf reiche, arrogante und gewaltbereite Jungen werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nachdem sie ihre Lehrerin zunächst sexuell misshandelt und dann zu Tode gebracht haben, von ihren Eltern in die Obhut eines mysteriösen Kapitäns (Sam Louwyck) gegeben. Dieser bringt sie auf eine seltsame tropische Insel bringt, wo die fünf „wilden Jungs“ neben bizarrer Vegetation, auch der zur Frau gewordene Herr der Insel (Elina Löwensohn) erwartet.

The Wild Boys” gehört zu den schönsten, wildesten und delirierensten Filmen der letzten Jahre. Ein Mischung aus dem wundervollen Kino eines Guy Maddin, eines George Kuchar, eines Nikos Nikolaidis und Lars von Trier zu “Europa”-Zeiten schaut auch vorbei. Aufgeladen mit sexuellem Symbolismus. Feucht-explosiv, Grenzen der Sexualität verwischend. Eine Film zwischen Traum, Albtraum, Kunst, Exploitation, Underground und klassischem Hollywood. Körniges Schwarzweiß explodiert in grellbunten Technicolorfarben. Regisseur Bertrand Mandico kommt aus der französischen Experimentalfilmszene, wo er zwanzig Jahre lang, nur Kurzfilme realisiert hat. Zusammen mit der der isländischen Filmemacherin Katrin Olafsdotir hat er 2012 ein Manifest verfasst, welches sie „Incoherence Manifesto“ nannten: „Inkohärent zu sein bedeutet, an das Kino zu glauben und einen romantischen Ansatz zu haben. Der inkohärente Film ist unformatiert, frei, verstörend und traumhaft, ist kinogen und episch. Er ist ohne Zynismus, aber voller Ironie.“ Wie man an meiner oben aufgeführten Auflistung an Worten, die den Film trotzdem nicht vollständig greifen können, sieht, hat sich Mandico auch sehr genau an sein Manifest gehalten, denn es beschreibt den Film auf den Punkt genau.

Der Film beruht sehr frei auf einer Vorlage von William S. Burroughs. In dessen Roman“ The Wild Boys: A Book of the Dead“ von 1971 geht es um eine homosexuelle Jugendguerilla, welche in einer apokalyptischen Zukunft gegen einen repressiven Staat kämpft. Burroughs hatte bereits in den 70er Jahren eine Verfilmung seines Buches im Sinn, welches seinem Willen nach ein schwuler Hardcore-Porno werden sollte. Aber daraus wurde nichts. In den 80er Jahren wollte der damals schwer angesagte Videoclip-Regisseur Russell Mulcahy das Werk mit der ebenfalls immens populären Band Duran Duran verfilmen. Doch auch dieses Vorhaben zerschlug sich und der Song „Wild Boys“ (dessen Video immerhin von Mulcahy inszeniert wurde) ist ein letztes Rudiment dieses Projektes.

Bertrand Mandico geht jetzt nicht soweit einen Hardcore-Porno zu inszenieren, aber er wagt sich so weit vor, wie es ihm scheinbar gerade möglich war. Die seltsamen, pelzigen Früchte, die die Jungs essen sehen aus wie Vulven. Zu Beginn ejakulieren die Jungs auf das Gesicht der gefesselten Lehrerin. Penisse werden gezeigt, einer sogar tätowiert. Und auf der Insel erinnern Pflanzen an willige Leiber, explodierende Phallen oder spermatriefende Schwänze. Ganz über die Grenzen des im Arthaus-Kino zeigbaren geht Mandico zwar nicht, aber er lotet die Grenze genüsslich aus. Die Luft vibriert vor Sexualität und Gewalt. Die Trennlinie zwischen den Geschlechtern wird aufgelöst. Darin zahlt auch die Entscheidung der Regie ein, die „wilden Jungs“ komplett mit Frauen zu besetzten. Ein Clou, der wunderbar funktioniert. Mir war davon zuvor nichts bekannt und die Illusion hat perfekt gewirkt. Bis zum Schluss war ich in dem Glauben, hier junge männliche Schauspieler vor mir zu haben. Auch wenn sich zum Ende die fünf talentierte Schauspielerinnen von den wilden Jungs in junge (nicht minder wilde) Frauen verwandelt haben, sind die Veränderungen in ihrem Verhalten subtil, und in ihnen schlummert weiterhin das Gewaltpotential und die latente Bedrohlichkeit, die auch die „Wilden Jungs“ ausgezeichnet haben.

In wichtigen Nebenrollen sind ferner Sam Louwyck und Mandicos Muse Elina Löwensohn zu sehen. Löwensohn kooperierte mit Mandico bereits in einigen Kurzfilmen. Hier spielt sie den geheimnisvollen Herrscher der Insel, welcher bereits die volle Transformation zur Frau durchgemacht hat und so etwas wie der Zeremonienmeister der Verwandlung darstellt. Löwensohns leicht androgyn wirkendes Wesen lässt ihren Séverin oder Séverine auf der Rasierklinge zwischen männlicher und weiblicher Sexualität balancieren. Dabei erinnert sie (auch von der Kleidung her) an Marlon Brando in „DNA – Die Insel des Dr. Moreau“ – auch die Geschichte eines Wissenschaftlers, der auf einer abgelegenen Insel Menschen transformiert – und in Frankenheimers Version der Geschichte ähnlich exzentrisch und außerweltlich daher kommt. Sicherlich kein Zufall. Sam Louwycks Leistung darf auch nicht unterschlagen werden. Als autoritäres Raubein, irgendwo zwischen Captain Ahab und Gny. Sgt. Hartman. Welches sich immer inneren aber wünscht, sich in seine weibliche Seite verwandeln zu können, dies aber zu seinem großen Schmerz nicht schafft. Nur eine einzige Brust wächst ihm, aber der Penis bleibt. Louwyck wandelt souverän zwischen eiserner Härte und übersteigertes Maskulinum und zarter Verletztheit und tiefer Sehnsucht nach Liebe. Womit er letztendlich die interessanteste, da ambivalenteste Figur in diesem Film ist. Neben der mit einem ähnlich charakteristischen Gesicht gesegneten Anaël Snoek, die am Ende vielleicht die Rolle des Captains einnimmt.

Bestimmt das Geschlecht den Charakter. Oder der Charakter das Geschlecht? Wohlweislich lässt Mandico diese Frage offen. Kommentiert nicht. Zeigt nur und lässt den Zuschauer mit seinen Gedanken und der Interpretation der Geschichte allein. Lässt ihn zurück in diesem dunklen Fiebertraum, aus dem man dann irgendwann wieder erwacht. Noch ganz benommen von der pulsierenden, treibenden Musik Pierre Desprats, welche sich kongenial über diesen magischen Film legt. Grandios auch die Auswahl begleitender Musikstücke, die von Nora Orlandis wundervollen „Der Killer von Wien“-Soundtrack, über Tchaikovskys „Danse de la Fée Dragée“ bis hin zu Nina Hagens „Naturträne“ reicht. Am Ende erklingt im Abspann das atemberaubende Lied „Wild Girl“, welches von Pierre Desprats komponiert und von Elina Löwensohn gesungen wird. Leider scheint der Soundtrack nirgendwo veröffentlicht worden zu sein. Er wäre eine Pflichtanschaffung.

Bildstörung setzt mit seiner Drop-Out Nr. 35 den Weg fort, den das Label mit den letzten Veröffentlichungen eingeschlagen hat. Bild und Ton ist wie immer vorbildlich. Die französischen Tonspur (einen deutsche Synchronisation gibt es nicht) liegt in wunderbar klarem DTS-HD Master Audio 5.1 vor. Das Bild weist eine Vielzahl der Effekte auf, wobei man in den klaren schwarz-weiß-Szenen deutlich sehen kann, wie brillant es ist. Mandico nutzt das Format 1,66:1, sodass nicht nur links und rechts, sondern auch oben und unten schwarze Balken zu sehen sind, was einen leicht klaustrophobischen Effekt hervorruft. Da das Bild darüber hinaus wie bei alten 8 oder 16mm Aufnahmen an den Ecken leicht abgerundet ist, wird die Illusion erzeugt, einen alten Film aus den 10er oder 20er Jahren zu sehen. Das Bonusmaterial besteht in erster Linie aus vier hochinteressanten Kurzfilmen des Regisseurs, die zwischen 8 und 31 Minuten lang sind und alle zusammen mit seiner Hauptdarstellerin/Muse Elina Löwensohn realisiert wurden. Diese Elina Löwensohn hat auch ein „Behind the Scenes“ gedreht, welches eigentlich ein eigenständiger Kurzfilm von 11 Minuten ist. Dieser besteht aus Aufnahmen der Insel und Bildern von den Dreharbeiten, sowie Löwensohns lyrischen Kommentar und wird untermalt von „Wild Girl“. Zu den Extras gehören dann noch 17 Minuten stumme „Deleted Scenes“, die mit Musik unterlegt sind. Und natürlich das 16-seitige Booklet mit einem Text des Filmwissenschaftlers Olaf Möller und einem Interview mit Bertrand Mandico.

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