Bericht vom 33. Braunschweig International Film Festival – Tag 2

Der nächste Tag begann für mich viel zu früh, denn der erste Film sollte bereits um 11:00 Uhr beginnen und vorher hieß es noch, sich fertig zu machen, zu frühstücken und aus dem sehr bequemen und komfortablen Foursides-Hotel auszuchecken. Irgendwann erreichte mich eine SMS von Holger, der mich scheinbar mit dem Hinweis, dass Mario Adorf (Ehrengast des Braunschweig International Filmfestival) ebenfalls gerade im Frühstücksraum verweilen würde, zur Eile treiben wollte. „Netter Versuch“, dachte ich noch, um dann später erstaunt feststellen zu müssen, dass das kein Trick war, sondern Herr Adorf tatsächlich neben uns saß. Dies freute mich umso mehr, als unser erster Film an diesem Tag „Deadlock“ war, und ich hoffte, dass Mario Adorf dazu eine Einführung halten und interessante Geschichten über den Dreh erzählen würde. Leider kam es nicht dazu, weil der 93-jährige Herr Adorf nach dem Frühstück bereits nach Hamburg aufgebrochen war, um dort den Dokumentarfilm über ihn vorzustellen. Schade. Immerhin befand sich aber seine Tochter unter den Zuschauern im überraschend gut gefüllten Astor-Kino.

Overlook-Feeling im Foursides-Hotel

Ebenso wie zu meiner großen Freude der Kollege und ehemalige „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“ -Mit-Redakteur Christian Genzel, dessen Blog Wilsons Dachboden ich hier schon öfter mal empfohlen habe und der gerade einen Dokumentarfilm über Porno-Pionier Howard Ziem dreht. Christian hatte ich nur kurz am Vortag sprechen können, als wir gemeinsam in der Schlange zum Universum-Kino standen. Viel mehr konnten wir uns an diesem Tag auch nicht unterhalten, was ich sehr schade fand. Auch Christoph Seelinger war mit dabei, so dass Holger und ich uns wirklich in guter und anregender Gesellschaft befanden.

Deadlock – Roland Klicks „Deadlock“ endlich einmal auf der großen Leinwand zu sehen, war eine Offenbarung. Kaum ein Film ist so sehr für das Kino gemacht worden, wie dieser. Zwar hatte er mich auch schon auf DVD beeindruckt, aber hier war er nun atemberaubend. Diese grandiosen Einstellungen, die Klick zusammen mit seinem kongenialen Kameramann Robert van Ackeren erschaffen hat, sehen aus wie die Gemälde der großen Meister. Die heiße Wüste und verschwitzen Figuren kann man spüren und riechen. Die flirrende Hitze wird nur durch Marquard Bohm Coolness runter gekühlt. Adorf brennt mal wieder ein Feuerwerk ab und sprengt die Leinwand. Und dann taucht irgendwann noch Anthony Dawson auf und hebt den Film noch einmal auf ein ganz anderes Level. Dazwischen, die ebenso atemberaubende, wie naive-mädchenhafte Mascha Rabben und Betty Segal als ihre irre Mutter, die ebenfalls aus dem Film heraus auf das Publikum zu stürmen scheint. Das ganze ist zutiefst nihilistisch und gleichzeitig ein Plädoyer des Überlebenswillens.

„Deadlock“ wird oftmals als „Western“ bezeichnet und das trifft es auch sehr gut, auch wenn der Film im Grunde eine klassische Gangstergeschichte ist, bei dem der eine dem anderen die Beute nicht gönnt. Auch wenn es sicherlich nicht die Hauptinspiration war, mag man sich durchaus vorstellen, dass Quentin Tarantino den Film sah, bevor er „Reservoir Dogs“ schrieb. Die Stimmung ist durchaus ähnlich. Neben seinen atemberaubenden Bildern ist es auch der intensive Soundtrack, der „Deadlock“ zum Klassiker macht. Der hämmernde, krachende und dann im „Tango Whiskeyman“ so zarte, verliebte Sound brennt sich wie die unbarmherzige Sonne des Films ins Hirn. Wer danach nicht zuhause Cans „Soundtracks“ auflegen kann, wird sich sich die Scheibe sicherlich sofort kauft. Am Besten als gebrauchte, wunderbar knackende Vinylscheibe. Das wäre dem Film angemessen.

Nach dem Film mussten Holger und ich sehen, dass wir schnell zum nächsten Film kamen. Denn vor den Eingängen der Kinosäle bilden sich bereits wieder sehr lange Schlangen. Unglaublich. Man hatte das Gefühl, dass ganz Braunschweig auf den Beinen sei, um ins Kino zu gehen.

Neon Heart – Der dänische Film „Neon Heart“ folgt drei Personen durch Kopenhagen. Laura (Victoria Carmen Sonne) war scheinbar früher Betreuerin für Behinderte und mit Niklas (Niklas Herskind) zusammen. Doch dann ging sie in die USA, um dort eine Karriere als Pornodarstellerin zu beginnen. Jetzt ist sie wieder zurück. Niklas arbeitet weiterhin als Betreuer für Menschen mit Down-Syndrome und hatte in der Vergangenheit ein Drogenproblem. Nach der Reha arbeitet er nun wieder im Job, kann aber seine Finger nicht vom Kokain lassen. Sein jüngerer Bruder Frederik (Noah Skovgaard Skands) schließt sich der Kopenhagener Hooligan-Szene an und droht ins kriminelle Milieu abzurutschen.

Im Grunde erzählt „Neon Heart“ keine aufregende oder spektakuläre Geschichte. Aber er ist immer ganz nah bei seinen Figuren, die er mit all ihren Fehlern zeigt. Der Film beschönigt nichts, aber er hat fühlbar Sympathien für seine gebrochen Figuren, die irgendwann die falsche Abzweigung im Leben genommen haben. Und während Laura versucht, nun wieder die Kurve zu bekommen und sich ein normales Leben aufzubauen, wiederholt Niklas wider bessern Wissens seine alten Fehler. Aber er hat im Grund ein gutes Herz, und er liebt seinen Job. Dass er mit seinen Betreuten auch unorthodoxe Wege einschlägt, liegt nicht daran, dass er ihnen etwas Böses will. Im Gegenteil. Man fühlt deutlich, dass er die beiden sehr mag und sie eben nicht wie Behinderte, sondern Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen behandelt. Wieder dem besseren Wissen, dass er hier Grenzen überschreitet, die ihm den Job kosten können. Sein jüngerer Bruder hat gerade die ersten Schritte in die falsche Richtung gemacht. Auf der Suche nach Anerkennung und eine Familie, die ihm die immer abwesende Mutter (wo der Vater ist, wird nicht erklärt) verwehrt und der ältere Bruder, der ein eigenes Leben lebt, nicht geben kann. Auch Frederik ist per se kein schlechter Mensch. Auch wenn er Obdachlose beschimpft und Homosexuelle berauben will. Er macht dies aber aus einer Pose heraus, nicht weil er im Herzen Hass empfindet.

Regisseur Laurits Flensted-Jensen kommt vom Dokumentarfilm und das merkt man „Neon Heart“ auch deutlich an. Er beobachtet, ohne zu werten. Arbeitet mit Laiendarstellern und schreckt auch nicht vor Bildern zurück, die man in einem solchen Film nicht unbedingt erwartet. Seien es die Szenen, in denen Niklas seine Betreuten mit in ein Bordell nimmt, damit sie sexuelle Erfahrungen machen (sie sind immerhin schon weit über dreißig und sollten nicht ständig wie Kinder behandelt werden, die keine sexuellen Bedürfnisse haben) oder solche, die Laura bei ihrer Arbeit im Pornogeschäft zeigen. Laura wird von der fantastischen Victoria Carmen Sonne gespielt, die bereits in „Holiday“ zu brillieren wusste und hier wie dort Mut zu expliziten Szenen beweist. Es bleibt zu hoffen, dass sie nicht dahingehend abgestempelt wird, denn sie gehört sicherlich zu den talentiertesten Schauspielerinnen des aktuellen europäischen Films.

Wie in „Holiday“ agiert sie hier völlig natürlich mit einer enormen Bandbreite an Gefühlen, die sie jederzeit überzeugend vermittelt. Gleiches gilt auch für Niklas Herskind und Noah Skovgaard Skands, der gerade in der Szene, in der er bei einem verunglückten Überfall auf einen Homosexuellen, vom Täter zum Opfer wird, im Zuschauer einen ganzes Bündel an widersprüchlichen Gefühlen hervorruft. Ihm gehört auch die schönste Szene des Films, wenn er am Ende ganz frei auf dem Rücksitz eines Motorrads durch Kopenhagen fährt und den flammenden Schein einer Pyrofackel hinter sich her zieht. Vielleicht in ein anderes Leben, vielleicht zu seinen Holligan-Kumpels. Wir wissen es nicht. So, wie Regisseur Flensted-Jensen den Zuschauer generell nicht bevormundet und alles haarklein auserzählt und erklärt. Vieles lässt er im vagen, deutet Dinge an, die er der Interpretation des Publikums überlässt. Er kleistert seine Geschichte auch nicht mit unwichtigen Ballast und tanzenden Erklärbären zu. Warum Laura nach Amerika ging, was sie sich dort versprach, was dort genau passierte und wie und warum sie wieder zurück kam, wird eben nicht ausgewalzt und ausgiebig erklärt. Es ist für die Geschichte auch unwichtig, beziehungsweise, was wichtig ist, kann man sich auch aufgrund der fragmentarischen Rückblenden oder der Handlungen der Figuren auch selber erschließen.

Kurz vor Ende des Filmes „Neon Heart“ musste ich schweren Herzens kurz das Kino verlassen. Eins der Merkmale des BIFF ist es nämlich, dass die Filme hier rasend schnell ausverkauft sind. Dies traf auch auf „La Gomera“ zu, den ich mir im Vorfeld ausgesucht hatte. Und auch bei meiner Alternative „Tehran: City of Love“ waren bereits alle Tickets weg. So stellte ich mich mit dem Mut der Verzweiflung noch mal an die Kasse, um zu fragen, ob vielleicht einige reservierte Karten nicht abgeholt worden waren. Und ich hatte tatsächlich Glück und konnte noch ein Ticket für „La Gomera“ ergattern. So lief ich schnell wieder in den Kinosaal zurück, um mir beruhigt das Ende von „Neon Heart“ anzusehen.

La Gomera – Die rumänische Mafia plant einen der ihren aus dem Gefängnis zu befreien. Für diesen Plan brauchen sie einen Komplizen innerhalb des Polizeiapparats und eine Codesprache, mit der sie sich unerkannt über größere Entfernungen unterhalten können. So wird der korrupte Polizist Cristi (Vlad Ivanov) nach La Gomera geschickt, wo er die einheimische (und tatsächlich existierende) Pfeiffsprache der Einheimischen erlernen soll. Was auch gut klappt, doch Cristi verliebt sich in Gilda (Catrinel Marlon), die Freundin des Gangsterbosses und hat auf einmal seine ganz eigene Agenda.

„La Gomera“ hat alle Zutaten zu einem klassischen Film Noir (nicht umsonst heißt eine der Hauptfiguren ausgerechnet „Gilda“). Den korrupten, kaputten Polizisten, der mit stoischer Mine durch sein kaputtes Leben stapft und sich in eine Femme Fatale verliebt, was ihn endgültig im Sumpf der Korruption und Kriminalität versinken lässt. Und da fangen schon die Probleme an. Hauptdarsteller Vlad Ivanov mag vielleicht einer der bekanntesten Schauspieler seines Heimatlandes Rumänien sein und bereits in internationalen Produktionen wie „Snowpiercer“ und „Toni Erdmann“ mitgewirkt haben, hier wirkt er aber fehlbesetzt Was vielleicht auch an mir liegt, da mich sein Aussehen vom ersten Moment an Uli Hoeneß erinnert hat. Und hat man einmal diesen Gedanken im Kopf, dann ist es schwierig zu akzeptieren, dass sich die hochattraktive Catrinel Marlon tatsächlich irgendwie zu ihm hingezogen fühlt. Aber auch so stimmt die Chemie zwischen den beiden nicht. Leidenschaft und Liebe wirken tatsächlich nur gespielt und niemals echt. Was durchaus zu einem Film passt, der damit spielt, dass man nie so recht weiß, wer welche Pläne verfolgt. Aber es führt auch dazu, dass man den beiden ziemlich egal gegenübersteht. Lediglich die atemberaubende Schönheit Catrinel Marlons hält einen in diesen Szenen bei der Stange.

Aber auch sonst wirken die Beziehungen der Figuren untereinander merkwürdig und oftmals nicht nachvollziehbar. Cristis Vorgesetzte beispielsweise lässt ihren Untergebenen beschatten, bespitzeln und hat seine Wohnung mit Mikrophonen und Kameras gespickt. Sie selber allerdings redet mit ihren Beamten nie im Büro, weil sie weiß, dass sie selber abgehört wird. Diese Stimmung der permanenten Paranoia ist zwar recht interessant, aber im Rahmen der Geschichte eher ablenkend und trägt nichts zu ihrem Fortgang bei. Auch weil man nicht weiß, weshalb hier scheinbar jeder abgehört wird. Ein Relikt aus Ceaușescus Zeiten? Ein Kommentar des Filmemachers zur Gegenwart seines Landes?

Grandios ist natürlich die Idee mit der Pfeiffsprache und der wilden Schönheit von La Gomera. Nur hat man das Gefühl, dass deren volles Potential nicht gehoben wird. Am Ende ist die Pfeiffsprache eben nur ein Gimmick, um den Hauptdarsteller nach La Gomera zu bekommen. Regisseur Corneliu Porumboiu lässt sich immer wieder ablenken und will prinzipiell zu viel erzählen. Statt sich zu fokussieren, franst die Geschichte aus. Was nicht heißt, dass „La Gomera“ völlig misslungen wäre. Porumboiu gelingen immer wieder spannende Szenen, und er baut überraschende, und wirklich schmerzhafte Effekte ein, die einen hochschrecken lassen. Nur am Ende ergibt das alles kein stimmiges Ganzes. Der Schluss gerät ihm dann leider völlig konfus. So bleibt „La Gomera“ leider ein mittelmäßiger Film, der sein ihm innewohnendes Potential verschwenderisch vergeudet.

Ein Detail am Rande. In der ganz hervorragenden Einführung, welche auf die sehr interessante Geschichte der Insel La Gomera und deren einzigartigen Pfeiffsprache einging, wurde der Film als „Komödie“ angekündigt. Woraufhin hinter uns häufiger einmal gegackert wurde, wenn es eigentlich nichts zu lachen gab. Bei solchen Dingen frage ich mich ja immer, ob die Reaktionen anders ausgefallen wären, wenn das Wörtlichen „Komödie“ nicht gefallen wäre. Und ob die kichernden Zuschauer nur deshalb so belustigt waren, weil sie verzweifelt lustige Elementen erwartet haben und deshalb jede noch so abstruse Gelegenheit zur Belustigung dankbar angenommen haben (Niveau auf dem Level „Hihi! Wie der guckt“). Man weiß es nicht. Interessieren würde es mich trotzdem.

Nach „La Gomera“ war für Holger und mich das BIFF zu Ende, denn wir wollten den direkten Zug zurück nach Bremen erreichen, um zu einer halbwegs akzeptablen Zeit wieder Zuhause zu sein. Schließlich rief am nächsten Tag die Arbeit. Die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Braunschweiger Bahnhof wurde kurz noch einmal spannend, als ein Auto die Gleise versperrte. Aber am Ende ging alles gut, wir hatten noch genug Zeit, um etwas zu essen und der Zug war auch pünktlich. So wiederholte sich das Drama vom Vortag Gottseidank nicht und wir kamen planmäßig in Bremen an.

Fazit: Der BIFF war wieder eine Reise wert. Jetzt wo man sich etwas auskennt, läuft auch alles reibungsloser und entspannter ab. Die Einführungen in die Filme waren auch wieder durch die Bank ganz große Klasse. Besonders loben muss ich hierbei noch einmal die Einführung zu „La Gomera“. Zudem herrscht eine wundervoll familiäre und friedliche Stimmung. Trotz der Menschenmassen, die in die Kinos drängen. Man fühlt sich gut aufgehoben und kann nur immer wieder staunen, wie kinobegeistert die Braunschweiger an diesen Tagen sind. Dass man viele bekannte und nette Gesichter trifft, tut noch ein übriges dazu. Worauf man sich einstellen muss, ist wie oben schon geschrieben, dass viele interessante Filme blitzschnell ausverkauft sind, was die Planung etwas schwer macht. Ferner finde ich es immer noch extrem unglücklich, dass die Filme nicht in festen Zeitschienen laufen, sondern sich häufig überschneiden. So kann man oftmals nicht zwei interessante Filme miteinander kombinieren, sondern hat stattdessen große Lücken zwischen den Veranstaltungen in Kauf nehmen muss. Ein letzter Kritikpunkt betrifft die diesjährige Filmauswahl, wobei ich hier nur für Samstag und Sonntag sprechen kann. Hier hatte ich das Gefühl, dass die tristen Sozialdramen und Außenseitergeschichten etwas zu sehr Übergewicht hatten, was das Programm recht eintönig erscheinen ließ. Eine Beobachtung, die einige meiner Mitstreiter durchaus teilten. Wobei ich hier Glück hatte und mit „Corpus Christi“ und „Neon Heart“ zwei echte Volltreffer ausgesucht hatte. Von den spannenden Filmen in den Retros natürlich ganz zu Schweigen. Von daher hat sich der Besuch unterm Strich mal wieder mehr als gelohnt, und ich denke mal, nächstes Jahr bin ich auch wieder dabei.

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