Bericht vom 23. Internationalen Filmfest Oldenburg – Teil 2

ol16_bAm zweiten Tag in Oldenburg stieß mein Weird-Xperience-Kollege Stefan zu mir und unser ähnlicher Filmgeschmack sorgte dafür, dass wir größtenteils dieselben Vorstellungen besuchten. Den Anfang machte ein walisischer Film im „Studio“. Ein Kino, welches ich bisher nicht kannte, und das seit diesem Jahr in der Kulturetage, gleich neben dem cineK, zu finden ist. Dafür wurde der Raum, in dem sich vor zwei Jahren noch die VIP-Lounge des Filmfestes befand, umgebaut. Man merkt deutlich, dass der sehr geräumige Raum ursprünglich nicht als Kino gedacht war, denn das Kino macht einen ähnlich „improvisierten“ Eindruck wie die Spielstätte im Theaterhof oder in der Exzerzierhalle. Aber die gerade im Gegensatz zur Exzerzierhalle sehr intelligent angebrachten Sitzreihen erlauben nicht nur einen hervorragenden Blick auf die große Leinwand, sondern sind auch sehr bequem. Etwas, was man durchaus zu schätzen weiß, wenn man im „Studio“ drei Filme hintereinander anschaut.

Regisseur Euros Lyn hat mit The Library Suicides seinen ersten Kinofilm realisiert. Vorher hatte er eine „Sherlock„- und diverse „Dr. Who“- und „Daredevil„-Episoden inszeniert. Das merkt man dann auch, da dem Film eine eigene Handschrift fehlt, und er tatsächlich auch stark an eine Folge einer ambitionierten TV-Serie erinnert. Das ist alles sehr professionell gemacht und schön fotografiert, aber sticht dabei nicht wesentlich aus ähnlich gelagerten, kompetent gefilmten Thrillern hervor. Punkten kann „The Library Suicides“ aber mit seinen wirklich lebendigen und liebenswerten Charakteren. Insbesondere Catrin Stewart spielt die optischen identischen, aber charakterlich sehr unterschiedlichen Zwillinge einfach sensationell gut. Aber auch Dyfan Dwyfor als sympathischer, etwas chaotischer Nachtwächter ist absolut liebenswert und lädt den Zuschauer ein, mit ihm mitzufiebern.

Der Film handelt von den eineiigen Zwillingen Ana und Nan. Die eine streng diszipliniert und effizient, die andere etwas tolpatschig und verträumt. Beide arbeiten als Archivare in der Staatsbibliothek. Ihre Mutter ist eine bekannte Schriftstellerin. Als die Mutter unter geheimnisvollen Umständen durch einen Fenstersturz stirb, sind beide sicher, dass ihr Biograph Eben sie umgebracht hat, den die letzten Worte ihrer Mutter waren: „Es war Eben“. Eben arbeitet derweil weiter an einer Biographie der berühmten Schriftstellerin. Dabei recherchiert er vor allem in der Staatsbibliothek, wo die Tagebücher und persönlichen Erinnerungen der Mutter untergebracht sind. Die perfekte Voraussetzung für Ana und Nan ihren Racheplan auszuführen. Aber natürlich läuft nichts so wie geplant.

Die Handlung ist zunächst spannend und auch höchst unterhaltsam umgesetzt. Dabei verblüfft die wunderbar kaltschnäuzige Konsequenz, mit der alles den Bach runter geht, und Hauptfiguren einfach so unerwartet ins Gras beißen. Eigentlich. Denn dann wird mal wieder der Schwanz eingekniffen, und die überraschenden Opfer sind dann doch nur verwundet. Und das Geheimnis, welches zusammen mit einer Figur eigentlich gestorben ist, steht mit dieser dann doch wieder auf. Und dann wird das alles viel zu ausführlich erklärt und noch möglichst viele „clevere“ Plotwists eingebaut. So ist das letzte Viertel dann, nach dem guten Aufbau, eine ziemliche Enttäuschung.

Endgültig Schiffbruch erleidet der Film dann durch eine alberne, vollkommen ausgelutschte (allein im letzten Jahr gab es mal wieder einen erfolgreichen Film, der damit spielt) und auch im Nachhinein recht unlogische Schlusspointe. Das ist ärgerlich und sehr schade. Denn aufgrund des hübsch gemachten Beginns, den sympathisch-lebendigen Charakterzeichnungen und der überragenden schauspielerischen Leistung von Catrin Stewart hätte er sehr viel mehr Potential gehabt, als durch das kompromisslerische, ja feige Drehbuch zulässt. Kein absoluter Reinfall, aber trotzdem der schwächste Film an den beiden Tagen.

The Apprentice ist ein sehr guter und sehr ruhiger Film aus der Türkei, welcher am Ende dann auch völlig zurecht den Publikumspreis gewann. Es geht um einen unscheinbaren, alleinstehenden Mann namens Akim, der seit 25 Jahren als Schneidergehilfe arbeitet. Das Leben und die zunehmende Veränderung seiner gewohnten Welt ängstigt ihn zutiefst. So zieht Akim beispielsweise in eine kleine Wohnung gegenüber seines Arbeitsplatzes, weil er gehört hat, dass immer mehr Autos mit Gasantrieb explodieren. Und der ältere Herr, der ihn immer abholt hat, fährt so ein gasbetriebendes Auto. Und die Taxifahrer auch alle. In der neuen Wohnung eingezogen, freundet er sich mit der älteren Vermieterin an, was ihn den unbändigen Zorn des in der selben Straße lebenden Barbiers einbringt. Denn dieser hat ein Auge auf die Vermieterin geworfen hat und ist nun rasend vor Eifersucht. Allerdings hatte Akim diesen schon vorher schon gegen sich aufbrachte, als er den Barbier bat, sich bei der Rasur auf seine Arbeit zu konzentrieren, und nicht mit seinen Kunden zu quatschen.

Das alles geht nicht wirklich gut aus, aber am Ende scheint eine Glühbirne der Hoffnung. Der Film ist streckenweise recht humorvoll, aber auf eine sehr stille und melancholische Art und Weise. Der im Programmheft gezogene Vergleich mit Kafka passt, da auch für mich Kafka ein großer Humorist war, dessen Romane unerbittlich zu einer Eskalation des Absurden führen, welche den frühen Monty-Pythons gut zu Gesicht gestanden hätten. Tatsächlich wäre für mich eine Kafka-Verfilmung mit den Pythons weitaus naheliegender gewesen, als zum Beispiel eine durch David Lynch, welcher im Programmheft ebenfalls als Vergleich zu „The Apprentice“ herangezogen wurde. „The Apprentice“ lebt dabei auch von der wundervoll zurückhaltenden Darbietung seines Hauptdarstellers. Aber auch Hakan Atalay als Akim zieht alle Register. Mit wenigen Mitteln und niemals plakativ gelingt es Regisseur Emre Konuk die Menschenscheu, die permanent Angst vor Veränderungen und die allgegenwärtige Paranoia seiner Hauptfigur in ruhigen Bilder in Szene zu setzen. Großes Kino.

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Regisseur Emre Konuk

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Hauptdarsteller Hakan Atalay

 

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Emre Konuk, Dolmetscher und Hakan Atalay

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Hakan Atalay

Some Beasts hatte ich mir ausgesucht, weil der von mir eigentlich präferierte Film „In A Valley of Violence“ von Ti West ausverkauft war. Ein Versuch noch ein Ticket an der Abendasse zu bekommen schenkte ich mir, da der Weg von der Kulturetage zum Casblanca für solche Experimente einfach viel zu lang ist. Also disponierte ich um, den „Some Beasts“ klang von seiner Beschreibung her durchaus interessant. Allerdings habe ich gerade aufgrund der Inhaltsangabe im Programmheft etwa ganz anderes erwartet. Demnach der Film nämlich von einem einsamen Mann in den Wäldern Nordamerikas handeln, der ein verwildertes Kind findet, was sein Leben ändert. Das ist allerdings Quatsch. Auch die „beeindruckenden Naturaufnahmen“ konnte ich nicht finden. Der Film wurde in einem körnigen Doku-Look gehalten und ist immer sehr nah dran an den handelnden Personen.

Es geht um einen Mann, der fernab seiner kleinen Familie in den Wäldern Virginias als Waldarbeiter arbeitet. Das Leben ist sehr hart, doch die kleine Gemeinschaft der Arbeiter hält zusammen. Mit seiner Frau hält er über das Telefon Kontakt, seine Tochter bekommt er nur kurz zu sehen, wenn ihn die Familie einmal im Jahr für kurze Zeit in der unwirtlichen Umgebung besucht. Er überlegt, ob er sie zu sich holt, aber die Distanz macht es schwer. Er hadert mit seinem kargen Leben, seine Nachbarn ziehen weg. Als ein alter Mann stirbt, zieht dessen Tochter in die kleine Gemeinschaft. Mit ihr freundet sich unsere Hauptfigur an. Ja, der verwilderte Junge taucht auch auf, aber nur kurz. Der Mann und die Frau kümmern sich um ihn, lassen ihm aber auch seine Freiheit. Als es zu einem weiteren Todesfall kommt, muss sich der Mann entscheiden, wie es weitergeht.

Das alles ist sehr bedächtig, sehr dokumentarisch und vollkommen unaufgeregt inszeniert. Der Regisseur Cameron Bruce Nelson hat selber lange als Waldarbeiter in Virginia gearbeitet und in genau jener Gemeinschaft gelebt, die er jetzt porträtiert hat. In der anschließenden Q&A bestätigte Cameron Bruce Nelson dann auch, dass viel von dem, was auf der Leinwand zu sehen ist, autobiographisch angehaucht ist. Das langsame Tempo des Filmes und der unspektakuläre Tagesablauf, der minutiös festgehalten wird, lässt den Zuschauer öfter mal auf die Uhr gucken, doch das starke Ende rechtfertigt die vorangegangene Geduld. „Some Beasts“ ist einer dieser Filme, die zwar während der Vorstellung recht anstrengend sind. Durch die man sich förmlich kämpfen muss. Aber wenn die Lichter im Saal wieder angehen, fängt der Film in der Rückschau immer mehr an zu wachsen. Und am Ende verdichtet er sich im Kopf zu einem sehr beeindruckenden und emotional fordernden Erlebnis.

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Regisseur Cameron Bruce Nelson

Under the Shadow war ein Exot im Programm. Ein jordanisch-katarisch-britischer Genrefilm, der in Teheran Ende der 80er Jahre spielt. Damals nahm der Irak nach fast 10 Jahren Krieg die Hauptstadt des Irans unter Raketenbeschuss. In dieser Zeit versucht die junge Mutter Shideh an die Uni zurückzukehren, um ihr Medizinstudium (ein großer Wunsch ihrer Mutter) wieder aufzunehmen. Da sie allerdings während der Revolution in linken Gruppen aktiv war, wird ihr dies verwehrt. Auch Zuhause ist es nicht leicht. Das eintönige Tagein-Tagaus ohne Perspektive auf einen anspruchsvollen Job, sowie die strengen Repressalien des Systems setzen ihr zu. Als eines Tages eine irakische Rakete in das Haus einschlägt, ändert sich alles. Ihre Tochter vermisst plötzlich ihre geliebte Puppe, an der Decke entsteht ein unheimlicher Riss und Geschichten über kinder-raubende Djins machen die Runde. Bald darauf wird ihr Mann zur Front abberufen, die übrigen Bewohner des Hauses flüchten vor den bevorstehenden Raktetenangriffen. Ganz allein mit ihrer Tochter, muss sich Shideh ihren Ängsten stellen, und um ihre Tochter kämpfen. Denn an diesen Djin-Geschichten scheint mehr dran zu sein, als sie dachte.

Ein ganz wundervoller, hochspannender Film, der auch hierzulande ungewohnte Einblicke in die iranische Gesellschaft gibt. Ich habe früher schon einige iranische Filme auf dem Filmfest in Hamburg gesehen und war jedes mal begeistert. Hier fühlte mich sehr häufig an diese erinnert, auch wenn letztendlich in Jordanien gedreht wurde. „Under the Shadow“ handelt von den Schikanen durch das Regime und den kleinen „Freiheiten“, die sich die Menschen trotzdem nehmen. Die Enttäuschung über die Revolution, die so ganz anders verlaufen ist, als viele sich das gewünscht haben. Die allgegenwärtige Angst vor den irakischen Raketenangriffen. In einer der stärksten Szenen des Filmes flieht Shideh (überzeugend gespielt von Narges Rashidi, die als Kind 1987 mit ihrer Familie aus dem Iran floh und heute eine vielbeschäftigte Schauspielerin im deutschen TV ist) mit ihrer Tochter panisch auf die Straße, um dort gleich von Revolutionswächtern in Haft genommen zu werden, da sie bei ihrer Flucht aus dem Haus ihr Kopftuch vergessen hat. Anschließend muss sie darauf warten, ob sie zu Peitschenhieben verurteilt wird oder noch einmal so davonkommt. Hier prallt dann ganz realer Schrecken mit phantastischem Horror zusammen.

Der im Iran geborene Regisseur und Drehbuchautor Babak Anvari verpackt in seinem Spielfilmdebüt „Under the Shadow“ eine Bestandsaufnahme der iranischen Realität Ende der 80er Jahre in eine spannende Geistergeschichte, in der die Geister für vieles stehen können. Das Regime, die Religion, die Überforderung der Mutter, das Heranwachsen des Kindes und seine damit verbundene Emanzipation von den Eltern. Der Film bietet all diese Interpretationen an – drängt sie einem aber nicht auf. Man kann ihn also auch einfach nur als guten Gruselfilm genießen. Eine schöne Klammer innerhalb des Filmfestes war es für mich, dass „Under the Shadow“ thematisch an „The Noonday Witch“ – meinen ersten Film des diesjährigen Filmfestes – anknüpfte. In jenem Film ging es ja ebenfalls um eine völlig überforderte Mutter, die den Zugang zu ihrem Kind verliert und fürchten muss, dass dieses von fremden Mächten geraubt wird. Fazit: Sehr empfehlenswert.

Und so endeten zwei Tage Oldenburg wieder viel zu schnell. Der Sonntag gehörte der Familie, sonst hätte ich mir noch den neuen Chan-wook Park angesehen. Nein, Nicolas Cage habe ich nirgendwo getroffen. Amanda Plummer und Christophe Honoré auch nicht. Generell vermisste ich in diesem Jahr einige altbekannte Gesichter. Und auch die Zeit schien viel schneller zu verrinnen als in den Jahren zuvor. Kaum angekommen, war schon wieder alles zu ende. Irgendwie fehlt mit die VIP-Lounge in der Kulturetage, in die man vor dem einen oder anderen Film noch schnell reinschauen konnte und einen netten Klönschnack halten. Zwar ist eine neue Lounge in einem Möbelmarkt am Pferdemarkt eingerichtet, aber die liegt mir für ein spontanes Vorbeschauen zu weit ab vom Schuss. Ein großes Kompliment möchte ich auf diesem Wege aber noch an das diesjährige Filmfest-Team loswerden. Gerade in diesem Jahr erschien mir alle Beteiligten besonders professionell, pragmatisch, freundlich und schnell. Auch die Einführungen und Interviews hatten eine hervorragende Qualität, welche die (guten) Vorjahre noch übertraf. Dem gilt hier zum Abschluss mein Applaus.

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