Einführung zu „Lolita am Scheideweg“ auf dem 5. Deliria-Italiano-Forentreffen in Nürnberg

deliria_lolitaAuf dem 5. Öffentlichen Forentreffen von deliria-italiano.de am 10. und 11. Oktober hatte ich die Ehre, die Einführung zu dem ersten von vier auf 35mm gezeigten Filmen zu halten. Einer Aufgabe, der ich gerne nach kam, handelte es sich doch hierbei um „Lolita am Scheideweg„. Einem selten gezeigten Film des von mir sehr verehrten Jess Franco.

Da ich verschiedentlich darum gebeten wurde, den Vortrag noch einmal zur Verfügung zu stellen, werde ich Ihn hier nun einer breiteren Masse zugänglich machen.

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„Der amerikanische Filmjournalist Tim Lucas schrieb einst, man kenne keinen Jess-Franco-Film, bis man sie nicht alle gesehen hätte. Das ist vielleicht überspitzt formuliert, trifft aber den Kern der Sache. Francos Filme sind kleine Mosaiksteinchen, die sich am Ende zu dem Bild eines besessenen Filmemachers zusammenfügen, welcher uns mit glühender Leidenschaft an seinen Fetischen, Träumen und Albträumen teilhaben lässt.

Laut der IMDb hat der am 12. Mai 1930 in Madrid geborene Jesús Franco Manera zwischen 1957 und 2013 bei 202 Filmen Regie geführt. In den 70er und den 80er Jahren waren es manchmal bis zu 14 Filme in einem Jahr. Jess Francos Leben war Film und er lebt in seinen Filmen weiter, denn er hat sie bedingungslos mit seiner Persönlichkeit, seinen Obsessionen und seiner ganze Liebe gefüllt.

Seine Schauspieler waren für ihn seine Familie. Und dies manchmal nicht nur im übertragenen Sinne, wie man an seiner Ehefrau Lina Romay sieht. Mit ihr war er ab 1973 zusammen und bis zu ihrer schweren Krebserkrankung 2005 trat sie fast jedem seiner Filme auf (in „Lolita am Scheideweg“ ist sie „Sultana“, die Hundefrau, welche man gleich am Anfang sieht). Antonio Mayans alias Robert Forster, der Franco seit den frühen 70er Jahren begleite, kümmerte sich in dessen letzten Monaten um ihn, und beendete seinen letzten Film „Revenge of the Alligator Ladies“, nachdem Jess Franco am 2.April letzten Jahres verstarb. In „Lolita am Scheideweg“ sehen wir ihn gleich in der Rolle des Alberto de Rosa.

Das leider schon lange vergriffene Buch „Obsession – The Films of Jess Franco“, welches heute auf Amazon und eBay nur noch zu Fantasiepreisen von um die Euro 400,- zu bekommen ist, unterteilt Jess Francos Karriere in sieben Phasen, die ich hier der Einfachheit halber übernehmen möchte. Auch wenn ich mit den Einteilungen nicht wirklich zufrieden bin, und man diese auch sicherlich noch einmal diskutieren müsste.

Jess Francos Karriere beginnt danach mit den „Classical Years 1952-1965“ in denen er seine ersten Schritte im Filmgeschäft unternahm und zunächst alle möglichen Genres bediente, wie die Komödie, das Musical oder sogar den Western. Der Krimi „La Muerte Silba un Blues“ (1962), eine Mischung aus „jazzy film noir“ und Eurospy, gefiel dem von Franco hoch verehrten Orson Welles so gut, dass er Franco später mit den 2nd Unit Aufnahmen seiner Shakespeare-Verfilmung „Chimes at Midnight“/“Falstaff“ (1965) betraute. Wichtiger aber noch ist Francos erster Horrorfilm „The Awful Dr. Orlof“, der ihn nicht nur mit seinem späteren Stammschauspieler und guten Freund Howard Vernon zusammenführte, sondern auch den Startschuss zu Francos eigentlicher Karriere gab. Franco führte in diesem Film erstmals zahlreiche Themen und Motive ein, zu denen er in den nächsten 50 Jahren immer wieder zurückkehren sollte.

Die zweite Phase nennt „Obsession“: „The Pop Art Years 1965-1967“. Hier drehte Franco z.B. für die Münchener Aquila Film des Schauspielers und Regisseurs Adrian Hoven. Dazu gehörten zwei Filme um das von Franco erfundene weibliche Detektiv-Dou „Die Roten Lippen“: „Sadisterotica“ (unter dem blumigen Titel „Der Wolf – Horror Pervers“ später auf Video veröffentlicht) und „Küß Mich, Monster“. Sowie einer seiner berühmtesten Filme: Der surrealen „Necronomicon – Geträumte Sünden“, welcher sogar der Regielegende Fritz Lang gefiel.

Das höchste Budget seiner langen Karriere, dürfte Franco in den „Harry Alan Towers Years 1968-70“ zur Verfügung gestanden haben. Für den britischen Filmproduzent drehte er den aufwändigen „Der Hexentöter von Blackmoor“ mit zahlreichen Massen- und Schlachtszenen, „Nachts, wenn Dracula erwacht“ mit Christopher Lee in der Titelrolle. Und einen meiner Lieblings-Francos: Die surreale Jazz-Fantasie „Venus im Pelz“. Zudem fällt in diese Phase auch „Eugenie – The Story of her Journey into Perversion“ alias „Die Jungfrau und die Peitsche“, wiederum mit Christopher Lee, der gar nicht erfreut war, als er im Nachhinein feststellte, dass er in einem Sexfilm besetzt worden war. Dieser Film ist quasi die „Urfassung“, des Filmes, den wir heute Abend sehen. Dazu aber später mehr.

Es folgen „The Peak Years 1970-73“ in denen Franco u.a für Artur Brauners CCC die wunderbaren Klassiker „Vamypros Lesbos“ und „Sie tötete in Ekstase“ drehte. In diesen Filmen spielte seine damalige Muse Soledad Miranda alias Susann Korda die Hauptrolle. Leider kam sie mit nur 27 Jahren 1971 bei einem Autounfall ums Leben, was Franco ziemlich aus der Bahn warf. 1971 wechselte er auch zu Robert de Nesles berüchtigte Billigfirma C.F.F.P. Dort realisierte er die surreal-bizarren Frankenstein-Filme „Die Nacht der offenen Särge“ und „Erotic Rites of Frankenstein“ (schöner deutscher Titel „Das Blutgericht der gequälten Frauen“). Bei den Dreharbeiten zu Letztgenanntem, lernte er die junge Rosa María Almirall Martínez kennen, die hier noch als Statistin arbeitete, doch schnell das Herz Francos gewann und von ihm 1973 unter dem Namen „Lina Romay“ in „Female Vampire“ („Entfesselte Begierde, Erotikill“) in der Hauptrolle besetzt wurde. Diese spielte sie ab da auch in seinem Leben.

Die Phase von 1973-1979 wird in „Obsession“ etwas derespektierlich unter „The Porno Holocaust Years“ zusammengefasst. Was ich unglücklich finde, da „Porno Holocaust“ erstens ein recht schlechter Zombie-Porno-Mix von Joe D’Amato ist, und zweitens in diese Phase einige hochinteressante Franco-Filme fallen. Wie z.B. sein beinahe autobiographischer Schlüsselfilm „The Sadist of Notre-Dame“, sowie die Filme, die er zwischen 1975 und 1977 für Erwin C. Dietrich drehte und welche heute zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen. Wie „Frauengefängnis“, „Jack the Ripper“ oder “Liebesbriefe einer portugiesischen Nonne“.

Der heute gezeigte Film „Lolita am Scheideweg“ gehört in die „The Homecoming Years 1980-1987“, die ihn mit dem Umweg über die Lisa-Film – für die er u.a. den in Deutschland noch immer verbotenen „Die Säge des Todes“ mit Oliva Pascal inszenierte – zurück in seine Heimat Spanien führte, wo 1980 auch „Lolita am Scheideweg“ entstand. Leider ist von diesen spanischen Filmen – von denen er teilweise acht Stück pro Jahr drehte – kaum ein Titel außerhalb Spaniens veröffentlicht worden. Am Ende dieser Phase stehen dann einige billige Pornos, die er zusammen mit Lina Romay unter dem Pseudonym Lulu Laverne herstellte. Wie die „Falcon Crest“-Parodie „Falo Crest“ oder „Lulu’s Talking Asshole“.

Die „Autumn Years ab 1987“ fingen zunächst sehr vielversprechend an. Eurociné gab Franco noch einmal richtig Geld in die Hand, mit dem er „Faceless“ drehen konnte. Dieser war mit Helmut Berger und Telly Savalas ausgesprochen prominent besetzt und seine größte Produktion seit den späten 60er Jahren. Nach 1990 wurde es dann ruhig um Franco und erstmals seit über 30 Jahren legte er auch Pausen ein. In dieser Zeit restaurierte er Orson Welles unvollendetes „Don Quixote“-Projekt aus den 50er Jahren. Francos restaurierte Fassung hatte 1992 unter dem Titel „Don Quijote de Orson Welles“ in Cannes Premiere. 1993 erschien dann das Buch „Obsession – The Films of Jess Franco“ und vor lauter Euphorie steckten – bzw. versenkten – zwei der Herausgeber 1997 ihr Geld in Francos Film „Tender Flesh“. Dieser wurde erstmals auf Video gedreht und markiert den Anfang dessen, was ich „The Final Years 1997-2013“ nennen möchte.

Auf „Tender Flesh“ folgten noch zahlreiche weitere, billig auf Video gedrehte Filme.Vor allem in den letzten Jahren waren dies mehr oder weniger private Angelegenheiten, die in Francos eigener Wohnung mit kaum mehr als einer Handvoll Laien-Darsteller inszeniert wurden. Am Ende verzichtete Franco dann vollständig auf eine Narrative und konzentrierte sich gänzlich darauf, seine voyeuristischen Träume in Bilder zu fassen. Sein letzter Film war 2012 „Al Pereira vs. the Alligator Ladies“, in dem er noch einmal auf die von ihm entwickelte (und teilweise auch gespielte) Figur des heruntergekommenen Privatdetektivs Al Pereira zurück griff.

Immer wieder tauchen in Francos Werken die gleichen Namen und Figuren auf. Neben Al Pereira sind die z.B. Orloff, Morpho, Radek, Martine de Bressac oder eben auch Eugenie. Oftmals kehrte er auch zu Themen zurück, die ihn ihn schon zuvor beschäftigt hatten. Die Geschichte seines Film „The Awful Dr. Orlof“ beispielsweise verwendete er nicht nur in „Jack the Ripper“, sondern gleich auch noch einmal in „Faceless“, sowie teilweise auch in „Die Rache des Hauses Usher“. Und auch die Geschichte um „Eugenie“ verfilmte er mehrfach. Dabei kann man aber nicht unbedingt von schlichten Remakes reden. Franco war nicht nur Filmemacher, sondern auch leidenschaftlicher Jazzmusiker und daher wäre es nur angebracht, besser von verschiedenen Variationen eines Themas zu sprechen.

Im dem Buch „Pioniere und Prominente des modernen Sexfilms“, welches sich 1983 erstmals in deutschsprachigen Raum ernsthaft mit Francos Arbeit beschäftigte, wird er mit folgenden Worten zitiert: „Ich bin ein sexuell Besessener, ein enorm Besessener. Ich bin ein Voyeur, und ich will davon nicht geheilt werden – daher mein gigantisches Vergnügen, Sexszenen zu erfinden, sie zu dirigieren, sie zu sehen und sie obendrein zu filmen… Das erfreut mein ganzes Wesen.“
Genau diese Freude an der Inszenierung seiner ganz eigenen, voyeuristischen Bedürfnisse, wird auch immer wieder ganz direkt in seinen Filmen thematisiert. So gibt es häufig minutenlange Nachtclub-Sex-Shows, die mit der eigentlichen Handlung des Filmes nichts, oder nur partiell zu tun haben. Auch die Kamera ist Francos Filmen immer voyeuristisch. Sie verbirgt sich hinter Weingläsern, Aquarien oder Blumenkübeln, um aus diesem Versteck heraus, heimlich die Liebesspiele der Akteure zu beobachten. Oder sie lässt den Blick schnell einmal über eine Brustwarze – oder noch lieber zwischen die Schenkel einer der Darstellerinnen – wandern, auch wenn eine klassische Bildauflösung nach einer ganz anderen Einstellung verlangt hätte.

Aber nicht nur nackte Menschen haben es Franco angetan. In seinen Filmen widmet er sich auch ausführlich anderen schönen Dingen. Kaum ein Film, in dem der Establishment shot – also eine Landschaftseinstellung, die die Handlung verortet – nicht sehr viel länger als eigentlich nötig über die Landschaft streicht. Oftmals benutzt Franco auch ungewöhnliche Architektur oder Interieurs als Hintergrund für seine Filme. Wie den Apartment-Komplex „El Xanadu“ des spanischen Architekten Ricardo Bofill Levi in Calpe/Alicante an der Costa Blanca, den er in „Sie tötete in Ekstase“, „La Comtessa Perverse“ und in unserem heutigen Film „Lolita am Scheideweg“ als Kulisse nutzte.

Ebenfalls wichtig für das Werk Francos, sind die Schriften des Marquis de Sade, die ihn immer wieder inspiriert haben. Insbesondere „Die Philosophie im Boudoir oder Die lasterhaften Lehrmeister“ hatte es ihm angetan. Der Untertitel des Buches lautet „zur Erziehung junger Damen bestimmt“ und es handelt davon, wie die freigeistige Madame de Saint-Ange und ein Freund ihres Bruders, der Libertin Dolmancé, die Sexualerziehung des 15 Jahre alten Mädchens Eugénie übernehmen. Der Unterricht umfasst die anatomische Erörterung der Sexualorgane und der erogenen Zonen, die praktische Überprüfung des Gelernten in konkreten Sexualhandlungen, sowie sittlich-moralische Betrachtungen über das Sexualverhalten der Geschlechter im Besonderen und über deren Sozialverhalten im Allgemeinen. Im Verlauf der praktischen Erziehungsarbeit werden weitere Personen wie der Bruder von Madame de Saint-Ange und ihr Gärtner unterstützend hinzugezogen.

Franco hat seine Version der „Philosophie im Boudoir“ erstmals 1969 als „Eugenie… the Story of her Journey into Perversion“ (Die Jungfrau und die Peitsche) mit Marie Lilljedahl als Eugenie, Maria Röhm Mme de St. Ange und Christopher Lee als Dolmancé verfilmt. Im selben Jahr folgte „Eugenie de Sade“ mit Soledad Miranda als Eugenie und Paul Muller in der Rolle ihres Vaters. Dieser Film erzählt in einer von der de Sadeschen Geschichte inspirierten Handlung davon, wie Eugenie Radeck von ihrem Vater in die Welt der sexuellen Perversion eingeführt wird. 1978 inszenierte Franco die Geschichte noch einmal als Porno unter dem Titel „Cocktail Spécial“. Und 1980 entstand „Lolita am Scheideweg“ mit der damals gerade einmal 14-jährigen Katja Bienert als Eugenie.

Die spanische Originalversion dieses Filmes trägt den Titel „Eugenie, Historia de una Perversion“ und ist 94 Minuten lang. Für den deutschen Markt wurde der Film von Carl Spiehs für seinen Residenz-Verleih gekauft und bearbeitet. Die Kinofassung – die wir heute sehen – ist nur noch 77 Minuten lang, die Videoversion dann 70, die RTL-TV-Ausstrahlung nur noch 64 Minuten. Die getragene Jazz-Musik, die im Original von Franco und Pablo Villa alias Daniel J. White stammt, wurde in der deutschen Fassung komplett durch einen weitaus schmissigere Score von Gerhard Heinz ersetzt, zudem wurden einige Szenen aus der 1977er Lisa-Produktion „Die Insel der 1000 Freuden“ von Hubert Frank als Traumsequenzen in den Film hereingeschnitten. Und wie man am Titel bereits sieht, wurde aus „Eugenie“ in dieser Fassung dann auch noch „Lolita“.

Ich wünsche Euch allen nun viel Spaß bei dem jetzt folgenden Film: „Lolita am Scheideweg“.“

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