Nachdem Alejandro Jodorowskys legendäre Filme „El Topo“ und „Der heilige Berg“ aufgrund eines Streits mit seinem Produzenten Allen Klein jahrzehntelang nicht zu sehen warn und so zu den großen, „verschollenen“ Meisterwerken der Filmwelt gehörten, reichten sich Jodorowsky und Allen Klein Anfang der 2000er Jahre die Hand, und so wurde der Weg zu einer Heimkinoveröffentlichung der Filme frei. 2007 erschien in den USA bei Anchor Bay eine Box mit HD-remasterten Versionen der Filme auf DVD. In Deutschland musste man sich noch sieben weitere Jahre gedulden. Aber nun sind die Filme dank des großartigen Labels Bildstörung auch hierzulande endlich erhältlich. In einer liebevoll gestalteten Box befinden sich nun die drei Filme „Fando und Lis“, „El Topo“ und „Der heilige Berg“.
Als Extras wurde zunächst einmal sämtliches Bonusmaterial der US-Box übernommen, wie die drei Audiokommentare Jodorowskys zu allen drei Filmen, einer Einführung ins Tarot uvm. Wie in der US-Box wurden auch hier noch zwei CDs mit den Soundtracks zu „El Topo“ und „Der heilige Berg“ beigelegt, deren Tracklists sich auf der Rückseite zweier kleinformatiger Filmplakate befinden. Auf einer Bonus-DVD befindet sich neben dem erst vor wenigen Jahren Wiederentdeckten, lange verschollen geglaubten ersten Kurzfilm von Jodorowsy „Die Krawatte“ (eine pantomimische Verfilmung der Thomas-Mann-Kurzgeschichte „Die vertauschten Köpfe“), auch noch die 90-minütige Dokumentation „Die Konstellation Jodorowsky“ von 1994 (welche allerdings auch schon 2007 zusammen mit „Santa Sangre“ bei Kino Kontrovers erschienen war).
Angereichert wird das ganze mit speziell für diese Edition produziertem Material, welches auf dem letztjährigen Filmfest München aufgenommen wurde und u.a. Jodorowsky zusammen mit Nicolas Winding Refn zeigt, der ihn als seinen Mentor bezeichnet und davon erzählt, wie Jodorowsky auf seine Entscheidung „Drive“ und danach „Only God Forgives“ zu drehen, Einfluss genommen hat. Moderiert wird dieses Material von einem sehr enthusiastischen Menschen vom Filmfest München, der so aufgeregt ist, neben Jodorowsky zu sitzen, dass er auch mal gar nicht merkt, dass Jodorowsky von Spanisch ins Englische gewechselt ist und munter weiter Jodorowskys Ausführungen auf Englisch „übersetzt“. Eine sehr schöne, in ihrer Euphorie ansteckende Szene.
Nicht vergessen sollte man auch die beiden umfangreichen und sehr informativen Booklets. Das Booklet zu „El Topo“ enthält ein langes, zeitgenössisches Interview, welches der junge Jodorowsky 1970 nach der Premiere von „El Topo“ sechs amerikanischen Journalisten gegeben hat. Außerdem eine Kopie der Indizierungsanzeige der alten VCL-Videokassette. Das Booklet zu „Der heilige Berg“ befasst sich mit Jodorowsky, seinem Leben und seinen drei hier vorliegenden Filmen und ist von Filmkritiker und – historiker Claus Löser verfasst worden.
„Fando und Lis“ liegt auch in der Blu-ray-Ausgabe der Box nur als DVD vor. Was schade ist und auf dem Cover nicht besonders deutlich wird. Das Bild von „Fando und Lis“ ist okay und passt in seiner Rauheit zu dem Film. „El Topo“ kommt im korrekten Bildformat von 4:3 und sieht so gut aus, wie noch nie. Beinahe etwas zu gut für diesen Kultfilm. Das Bild ist teilweise so klar, dass man glauben könnte, er wäre mit einer modernen Digitalkamera gedreht. Von besonderer Pracht ist „Der heilige Berg“ im Format 1:2.35. Der Originalton ist gut verständlich und klar. Der deutsche Ton ist ebenfalls gut hörbar.
Die nun folgenden Screenshots stammen, bis auf „Fando und Lis“, alle aus der US-DVD-Box „The Films of Alejandro Jodorowsky“, die 2007 bei Anchor Bay erschien.
„Fando und Lis“ war der erste Spielfilm des Kino-Bilderstürmers Alejandro Jodorowsky, und wie auch bei dessen späteren Filmen merkt man hier deutlich seine Herkunft von Zirkus, Pantomime und Theater. Gerade in einer Rückblende, in welcher Lis als kleines Mädchen ein Marionetten-Theater besucht, werden diese Bezüge zu Jodorowskys eigener Biographie sehr deutlich. Er selber spielt in dieser Szene einen Marionettenspieler – eine gottgleiche Figur, die die Fäden im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand hält oder bei belieben auch kappen kann. Lis wird von ihm in einen kleinen Raum geworfen, in dem ihr Pantomime und theatralische Schauspieler in schlecht sitzenden Kostümen begegnen. Auch auf der Reise, die Fando und Lis gemeinsam unternehmen, stoßen sie immer wieder auf Tableaus, die an Jodorowskys frühere Spielwiesen erinnern. Statuenhafte Wesen, absurde Personenaufstellungen, Zitate aus der Kunst und der Psychologie.
Die Reise Fandos und Lis beschreibt den Weg von unschuldigen Kindern in – und durch – die Welt der Erwachsenen. Mit all den Versuchungen, Verlockungen, Perversionen und der Korruptheit. Die unschuldige, naive Lis soll dies nicht überleben. Fando hingegen, der den Versuchungen neugierig gegenübersteht, soll sich schließlich gegen Lis stellen, die im Gegensatz zu ihm rein und unverdorben bleiben kann. Vielleicht kann er es nicht ertragen, in ihr das Ideal der Unschuld zu sehen; seine eigene Vergangenheit, von der er sich mit Macht lösen will. All dies bleibt bei Jodorowsky aber nach vielen Seiten hin interpretierbar. Er verweigert sich ganz klar einer eindeutigen Dechiffrierung, der Zuschauer hat die Möglichkeit die surreal-grotesken Situation für sich selber zu deuten. Zwar erliegt Jodorowsky im Audiokommentar der Versuchung, seine mysteriösen Bilder zu erklären, aber man muss mit diesen Erklärung nicht unbedingt d’accord gehen.
Der Zuschauer kann sich auch durch die Bilder treiben lassen. Gerade wenn man nicht zwanghaft nach einem Sinn sucht, werden sich einem die Interpretationsmöglichkeiten ganz von selber eröffnen. Denn trotz seines verkodeten Symbolismus, ist „Fando Y Lis“ im Kern ein recht zugänglicher Film, sofern man ihn mit dem Bauch und weniger mit dem Kopf sieht. Jodorowsky erschafft plakative, kräftige Bilder, die einen gleichermaßen verwirren, wie faszinieren. Die außerirdische Steinlandschaft (der Film wurde überwiegend auf einem alten Minengelände und in Ruinen gedreht) tut ein Übriges dazu, den Bildern eine unwirkliche Potenz zu geben. Wie einst Bunuel und ganz im Geiste der Surrealisten tritt, kratzt und spukt Jodorowsky gegen alles, was Staat und Kirche heilig ist. Seien es die „heiligen“ Großmütter, die als spielsüchtig und sexbesessen dargestellt werden. Oder ein – von einer alten Frau gespielter – Papst, der mit Lis kopulieren will. Die dekadente Bourgeoise in den Ruinen, unwissend, dass sie bereits ihre eigene Welt zerstört haben.
Diese Attacken gegen Staat, Gesellschaft und Kirche reitet auch Jodoroswskys Weggefährte Fernando Arrabal in seinen Filmen. Auf dessen Theaterstück – welches Jodorowsky bereits für die Bühne inszenierte – beruht „Fando und Lis“ auch, wenngleich Jodoroswski behauptet, dieses auf dem Kopf heraus rekonstruiert, und mit seinen eigenen Gedanken neu erschaffen zu haben. Was man ihm sicherlich auch glauben kann, denn vergleicht man „Fando und Lis“ mit den grimmig-finsteren Werken Arrabals, wie beispielsweise „Viva la Muerte“, dann wirkt Jodorowskys Film fast schon verspielt und leicht.
Mit seinem zweiten Werk „El Topo“ setzte Jordowsky seine Reise in die Spiritualität, die schon das große Thema von „Fando und Lis“ war, fort. Zugleich „erfand“ er mit „El Topo“ auch den sogenannten „Mitternachtsfilm“. Auch wenn dies eher durch Zufall geschah, als John Lennon den Film in seinem Stammkino – in dem er auch seine mit Ehefrau Yoko Ono produzierten Kurzfilme zeigte – zur Vorführung bringen ließ. Um Mitternacht gab es dann „El Topo“, und der für seine Zeit ungewöhnliche und tabubrechende, surreale Film wurde zu einer Sensation. Dabei spielte sicherlich auch eine Rolle, dass das Publikum mit Hilfe bewusstseinserweiternder Substanzen besonders empfänglich für die ungewöhnlichen, mysteriösen Bilder war, die Jodorowsky auf die Leinwand zauberte.
In Deutschland als Italo-Western vermarktet, dürfte der Film so manchem Western-Freund ziemlich gegen das Schienenbein gedrehten haben. Insbesondere die Wahl des Synchronsprechers für „El Topo“ – Clint Eastwoods langjährige Stimme Klaus Kindler – sorgt insbesondere in der zweiten Hälfte des Filmes für starke Irritationen. „El Topo“ spielt zwar mit Stereotypen und Western-Situationen, beschreibt aber eine Suche nach dem spirituellen Sinn des Lebens. Er ist eine Reise zur Erkenntnis, an deren Ende fast zwangsläufig die Auflösung des irdischen Lebens steht. „El Topo“ ist zu Beginn ein herzloser Killer, der sich dann jedoch auf dem Weg zur Erleuchtung sich mit vier Meistern misst, die jeweils unterschiedliche Religionen symbolisieren. Mit ihrem Tod nimmt „El Topo“ ihre Lehren in sich auf und erreicht am Ende einen göttlichen Status. Wie Jesus wird er von seinen Jüngern verraten, er wird förmlich hingerichtet, um dann in einer neuen Form wieder aufzuerstehen. Wenn „El Topo“ in der zweiten Hälfte des Filmes wieder auf die Erde und zu den hoffnungslos verdorbenen Menschen zurückkehrt, tut er dies zunächst als heiliger Narr.
Jodorowskys Film quillt über vor bizarren Bildern, absurden Situationen und geheimnisvollen Symbolen. Er lädt den Zuschauer ein, das Gesehene zu interpretieren, sich neuen Bilderwelten zu nähern und zwischen den überlagernden Bedeutungsebenen zu wechseln, wie es ihm beliebt. Dabei ist „El Topo“ sehr viel gradliniger als „Fando und Lis“ oder Jodorowsky folgendes magnum opus „Der heilige Berg“, denn er folgt tatsächlich einem narrativen Faden, den man aus diversen Westernfilmen – insbesondere denen aus Italien – kennt. Da ist zunächst der Held, der ein Anti-Held ist, rücksichtslos und eiskalt. Dann aber doch menschliche Regungen zeigt und schließlich versucht eine gute Tat zu vollbringen, nur um dabei tragisch scheitert, was zu seiner Rache und letztendlich Auslöschung führt. Doch um diesen Alibi-Faden herum, drapiert Jodorowky religiöse, mythische und spirituelle Anspielungen. Er entfesselt einen Orkan an fremdartigen Bildern, die aus einem fiebrigen Albtraum zu stammen scheinen.
Groteske Opern-Generale; in bunte Frauengewänder gehüllt Banditen; ein Hybridwesen, welches aus einem Armlosen und einem Beinamputierten besteht. Ein Feld mit toten Kaninchen, Seen voller Blut und eine Höhle voller Verkrüppelter, die sehr viel menschlicher erscheinen als die sogenannten Normalen, deren Verkrüppelung seelischer Natur ist. Mittendrin „El Topo“, der von einem coolen, in schwarzes Leder gewandeten Revolverhelden, zu einem androgynen, leuchtenden Zwitterwesen und schließlich zu einem armen Pantomimen in Mönchskutte wird. Kastration, Vergewaltigungen, der gewaltsame Tod von Frauen und Kindern, die korrupte Kirche. Dazwischen die Wüste, der Sand, biblische Anspielungen, Symbolismus aus fernen Religionen. Mord, Totschlag, Auferstehung, Himmelfahrt. „El Topo“ ist so reich an Bildern, dass er einen fasziniert, aber auch erschöpft zurück lässt. Eigentlich kann man dies kaum noch überbieten, aber nur drei Jahre später sollte Jodorowsky mit einem Film zurückkehren, demgegenüber „El Topo“ wie eine geradlinige Vorstudie wirkt.
Mit „Der heilige Berg“ schuf Jodorowsky sein Meisterwerk. Einen schillernder Felsen von einem Film, der aus der Filmgeschichte beinahe einzigartig hervorragt. Die Geschichte des „Heiligen Berges“ nacherzählen zu wollen, erscheint aufgrund der schier unglaublichen Fülle an Themen, die Jodorowsky hier unterbringt. beinahe unmöglich. Zutiefst beeindruckt von der Kunst des Tarots, in die er sich bereits zu diesem Zeitpunkt vertieft hatte, und vollgesogen mit Wissen über die verschiedenen Religionen und spirituellen Strömungen der Welt, erschuf Jodorowsky ein Werk, dem man am besten mit einem offenen Geist und der Bereitschaft, sich einfach mitreißen zu lassen, begegnen sollte. Im Audiokommentar erklärt Jodorowsky einige Szene und erzählt, wie er aufgrund seiner eingehenden Beschäftigung mit dem Tarot, diese gestaltete und was sie für ihn bedeuten. Doch man sollte gar nicht zu genau hinhören, sondern sich seine eigenen Gedanken machen. Selber herausfinden, was einem die Bilder sagen.
Was Jodorowsky mit „Der heilige Berg“ für einen surrealistischen Rausch in psychedelischen Farben entfesselt, sucht seines Gleichen. Am Ehesten kann man ihn noch Bunuels „Andalusischen Hund“ oder „Das goldene Zeitalter“ vergleichen, die ja rein mit Assoziationen arbeiten und das eigene Erleben des Filmes, einer traditionellen Erzählweise entgegensetzen. Wobei man Jodorowsky nicht vorwerfen könnte, dass er keinen dünnen, roten Faden in seinem Film hätte. Wieder geht es um die Suche nach Sinn und Erleuchtung. Wie zuvor, wird ein Mensch durch eine Metamorphose zu einem heiligen Wesen. Hier beginnt der Film mit einem Narren, der versucht sich selbst zu finden und schließlich bei einem Alchemisten/Guru landet, der ihn in seine Geheimnisse einführt, dem Narr zeigt, wer er ist und wie die Welt beschaffen ist. Schließlich wird er sich mit einer Gruppe auf den heiligen Berg begeben, um die letzte Verwandlung zu erfahren und sich von seinem alten Selbst befreien.
Mit einem deutlich höheren Budget als noch bei „El Topo“ kann Jodorowsky aus dem vollen Schöpfen, um seine eigene Welt entstehen zu lassen. So lässt er bei einem Straßenfest die Erobern Mittelamerikas durch die spanischen Konquistadoren durch kunstvoll verkleidete Echsen und Frösche nachspielen. Der Turm des Alchemisten gleicht einem psychedelischen Wunderland in dem überall wilde Tiere herumlaufen. Insbesondere hier wirkt die Kameraarbeit des Filmes weniger wie naturalistische Fotografie, als vielmehr lebendig gewordenen Gemälden. Bei der Vorstellung der Archetypen nutzt Jodorowsky Verfremdungseffekte, die man zuvor vielleicht einmal bei Fellini und Godard gesehen hat, aber nie in einer solch überbordenden Fülle. Und obwohl Jodorowkys Welt einer hier einer Traumlandschaft gleicht, so hat er diese doch geerdet, indem er Laien einsetzt und Huren eben von echten Prostituierten spielen lässt.
In „Der heilige Berg“ bricht Jodorowsky mit Genuss, Wut und Leidenschaft ein Tabu nach dem nächsten. Da werden in Großaufnahme Hintern gewaschen und wortwörtlich Scheiße zu Gold gemacht. Jodorowsky spart nichts aus. Seien es Pädophilie, Blasphemie, Sadismus, Militarismus, Kannibalismus. Wie schon in „Fando und Lis“ und „El Topo“ inszeniert er ältere Damen als sexsüchtige Furien. Jodorowsky zelebriert die Andersartigen und lässt seinen Dieb als Jesus posieren, dem als Jünger dann Prostituierte folgen. Angesichts der vielen Ideen, Themen, Bildern, Tönen und Anspielungen wird einem beinahe schwindelig und so fordert es „Der heilige Berg“ vom Zuschauer quasi selber ein, mehr als einmal geschaut zu werden.
Im letzten Drittel des Filmes schlägt der formale Stil dann um und die Kameraarbeit wird eher dokumentarisch. Trotzdem baut Jodorowsky immer wieder surreale Schreckgespinste ein. Um dann schließlich in einem der großartigsten Schlussbilder der Filmgeschichte seinen eigenen Film zu dekonstruieren und die Welt hinter der Filmwelt zu zeigen. Die dann allerdings wieder nur eine Inszenierung ist. Die wirkliche Wahrheit liegt da draußen im Kinosaal, in jedem einzelnen Zuschauer und Filme wie „Der heilige Berg“ sollen helfen, sie zu finden.
Eine tolle Würdigung von Jodorowsky. In der nach oben offenen Unfassbarkeitsskala hat er wirklich nicht viel Konkurrenz zu fürchten. Von den Filmen, die ich kenne, vielleicht Carmelo Benes SALOMÉ am ehesten.