Filmbuch-Rezension: Paul Drogla „Vom Fressen und Gefressenwerden“

vom fressen droglaDenkt man an Kannibalen-Filme, hat man zugleich die italienischen Schocker aus den späten 70ern und frühen 80ern vor Augen, die derartig drastisch die Dekonstruktion und das Verschlingen des menschlichen Körpers zeigen, dass sogar hartgesottene Splatterfreunde diesen Auswüchsen des italienischen Exploitationkinos eher skeptisch gegenüberstehen. Zwar ist Ruggereo Deodatos „Cannibal Holocaust“ heutzutage weitgehend als wütendes Meisterwerk des provokanten und schockierenden Extremkinos anerkannt, die weiteren Vertreter werden aufgrund der selbst-zweckhaften „Tiersnuff“-Szenen, dem latenten Rassismus und der überzogenen Ekeleffekte überwiegend abgelehnt.

Dabei ist die Figur des Kannibalen aber schon sehr viel älter und vielschichtiger, wie Paul Drogla in seinem Buch „Vom Fressen und Gefressenwerden – Filmische Rezeption und Re-Inszenierung des wilden Kannibalen“ aufzeigt. Tatsächlich ist es heute strittig, ob es die aggressiven Wilden, die sich vom Fleisch anderer Stämme ernähren, in dieser Form tatsächlich gegeben hat. Vieles basiert auf Hören und Sagen; Erzählungen von Entdeckern, die diese wiederum von Eingeboren übernommen haben. Ob diese Schreckensgeschichten nun der Wahrheit entsprechen oder nur genutzt wurden, um die Fremden zu verschrecken, bzw. die anderen Stämme zu verteufeln, ist bis heute ein Streitpunkt unter den Gelehrten.

Für die mediale Figur des wilden Kannibalen – „zivilisierte“ Menschenfresser, wie einen Dr. Hannibal Lector und seine realen Vorbilder, klammert Drogla bei seiner Betrachtung bewusst aus – ist dies auch in soweit unerheblich, als diese aus den exotischen Berichten aus ferner Ländern entstand, die im damaligen Europa förmlich aufgesogen wurden. Und so setzt Drogla auch den bekanntesten wilden Kannibalen der Literaturgeschichte – Freitag aus Daniel Defoes „Robinson Crusoe“– an den Anfang der medialen Verwertung und Formung dieser Figur und widmet ihm ein ganzes Kapitel seiner Arbeit. In diesem untersucht er, wie sehr diese fiktive Gestalt noch heute unser Bild vom wilden Kannibalen prägt. Interessanterweise weist er auch nach, dass die Figur des wilden Kannibalen eine solche Popularität erreichte, dass er bereits in der Frühzeit des Films, u.a. 1899 in „Bringing Home A Friend For Dinner“ oder wenige Jahre später bei Méliès, auftauchte.

Grundsätzlich haben sich, so die Hauptthese Droglas, gerade durch die verschieden Inszenierungen im Film, sechs unterschiedliche Stereotypen des wilden Kannibalen entwickelt, die er wie folgt kategorisiert. 1. Der „edle Wilde“ für den exemplarisch der „Freitag“ aus der Robinsonade steht, 2. Der wilde Menschenfresser auf fiktionaler Basis, wie man ihn als Bedrohung in diversen Abenteuerfilmen kennt, 3. Der komödiantische Kannibale, der als Klischee in Komödien und vor allem Cartoons auftaucht, 4. der pseudo-dokumentarische Wilde, wie man ihn in den Mondofilmen vorfindet (insbesondere „Guinea Ama“ sei hier erwähnt, der sich in Teilen auch in Bruno Matteis Zombiefilm „Hölle der lebenden Toten“ wiederfindet, 5. Die rohe und bestien-artige Variante, die den wilden Kannibalen als Monster inszeniert, und die man dann in den eingangs erwähnten italienischen Kannibalen-Filmen wiederfindet, und letztendlich der 6. historisch fundierte Kannibale, welcher in Historienfilm wie Ridley Scotts „1492 – Die Eroberung des Paradieses“ auftaucht.

Seine These untermauert Paul Drogla mit zahlreichen Filmbeispielen. Hierbei ist es sehr interessant, wie insbesondere beim „Komödien-Kannibalen“ einige wenige Insignien (Knochen im Haar, Speer, großer Kochtopf) ausreichen, einen Wilden als Kannibalen zu charakterisieren, ohne dessen anthropophagen Neigungen zu verdeutlichen. Tatsächlich ist laut Drogla die Figur des wilden Kannibalen vor allem eine, die seit Jahrhunderten durch die Medien geformt und immer wieder neu inszeniert wurde, ohne das es hierfür konkrete historischen Grundlagen gäbe. Eine spannende Erkenntnis, denn das Bild des wilden Kannibalen hat sich durch seine verschiedenen Inszenierungen im Film bereits so in der Gesellschaft verfestigt, dass sie als „echt“ und historisch akkurat akzeptiert ist. Dies gilt insbesondere für die Inszenierung des von Drogla eingeführten Typen des „historisch fundierten Kannibalen“, dem in der realen Welt wahrscheinlich ebenso die Basis fehlt, wie dem „Cartoon-Kannibalen“.

„Vom Fressen und Gefressenwerden“ ist meines Wissens nach das erste deutschsprachige Buch, welches sich explizit wissenschaftlich mit dem Bild des wilden Kannibalen im Film beschäftigt. Dieser tauchte – zumindest in der Filmliteratur – bisher eher als Nebenfigur in Büchern über italienischen Genrefilme auf. Das Büchlein „Kannibalen!“ von Aron Boone, kann zwar mit vielen bunten Bildern aufwarten, ist allerdings in einem nichtssagendem und marktschreierischen Fan-Sprech geschrieben. Illustrierende Bilder fehlen in „Vom Fressen und gefressen werden“ komplett, aber das Buch ist auch eine wissenschaftliche Abhandlung über die filmische Rezeption und Re-Inszenierung des wilden Kannibalen und mitnichten ein Buch über Kannibalen-Filme. Dies sollte dem potentiellen Leser vorab bewusst sein.

Bei dem Buch handelt es sich um die punktuell erweiterte wissenschaftliche Arbeit, die zur Erlangung des ersten Staatsexamens an der Technischen Universität Dresden vorgelegt wurde. Dies merkt man an der sehr trockenen und formelhaften Einleitung, mit der dem Anspruch des wissenschaftlichen Betriebes seine Schuldigkeit erwiesen wird, und den zahlreichen Fußnoten. Sobald Paul Drogla aber tief in das Thema seiner Arbeit eintaucht, gelingt es ihm, den Leser auf sprachlich hohem, aber verständlichen Niveau, souverän durch seine Arbeit zu führen, und seine Schlussfolgerungen klar begreiflich zu machen.

Paul Drogla: „Vom Fressen und Gefressenwerden – Filmische Rezeption und Re-Inszenierung des wilden Kannibalen“, Tectum Verlag, 154 Seiten, € 19,95

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