DVD-Rezension: „Himizu – Dein Schicksal ist vorbestimmt“

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Der 14-jährige Yuichi (Shôta Sometani) möchte nur ein ganz gewöhnliches Leben führen. Nachdem ihn seine spielsüchtige Mutter für einen Liebhaber verlassen hat, kümmert er sich um den kleinen Bootsverleih der Eltern. Sein alkoholkranker Vater schaut nur vorbei, um ihm sein letztes Geld abzunehmen und ihn zu beschimpfen. Nur die Tsunamiflüchtlinge, denen er erlaubt auf seinem Grundstück zu leben, unterstützen ihn, so gut sie können. Und da ist noch seine Mitschülerin Keiko (Fumi Nikaidô), die völlig von ihm besessen ist, und darum nicht von seiner Seite weichen will. Eines Tages tauchen zwei Yakuza auf, die die hohen Schulden seines Vaters eintreiben wollen und Yuichi verprügeln und demütigen. Der Zorn in Yuichi wächst…

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Das ist er also: Mein erster Sono. Bisher waren die Werke dieses japanische Regisseurs Shion Sono, dessen Filme extrem gespaltene Reaktionen bei Kritik und Publikum auslösen, immer wieder an mir vorbei gegangen. Wobei mir der Name Sono natürlich geläufig war. Man hörte von der berühmten Szene aus „Suicide Circle“ in der eine Gruppe Schulkinder kollektiven Selbstmord begeht, indem sie sich vor eine fahrende U-Bahn stürzen. Auch hörte ich, dass seine Werke überlang und mit etwas zu viel Kunstwillen ausgestattet sein sollten. Und natürlich von der Gewalt, die er gerne zelebriert. Bisher war es mir aber, wie gesagt, nicht vergönnt, mir selber ein Bild von Shion Sono zu machen. Somit war ich sehr gespannt auf „Himizu“, der nun bei Splendid als Teil der Amasia-Reihe erscheinen ist. Ein merkwürdiges Umfeld, finden sich hier doch vor allem Martial-Arts-Filme oder Heroic Bloodshed-Epen. „Himizu“ scheint mir da eher klassisches Material für Rapid Eye Movies zu sein, die ja auch Sonos andere Film in Deutschland veröffentlicht haben.

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„Himizu“ entstand zunächst als Adaption des 2001 erschienenen, gleichnamigen Mangas von Minoru Furuya. Doch während der Dreharbeiten ereignete sich die Katastrophe von Fukushima, woraufhin Shion Sono sein Drehbuch umschrieb und sich mit seiner Crew in die Miyagi-Region aufmachte, um vor dem Hintergrund der schrecklichen Verwüstung, einige Szenen zu drehen, die als Rückblicke und Traumsequenzen Eingang in den finalen Film fanden. Sieht man „Himizu“ jetzt, mag man fast gar nicht glauben, dass diese Elemente erst nachträglich eingefügt wurden. Zu perfekt passen sie in diese Allegorie auf den heutigen Zustand Japans. Eine zerstörte Nation, die vor den Trümmern ihrer Werte steht. Vernichtet von Gier, menschlicher Kälte und Sorglosigkeit. Die Hoffnung ruht auf der nächsten Generation, doch diese irrt orientierungslos durch die Trümmerlandschaft, die einst ihr Zuhause war. Die Frage ist, besteht noch Hoffnung? Wird die nächste Generation sich daran machen, den Schutt beiseite zu räumen und neu anzufangen? Gönnt Sono seinen Landsleuten diesen kleinen Lichtblick oder löst dieser sich auf, wie ein Kopf, durch den eine Kugel gejagt wird?

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Diese Allegorien auf die momentane Situation in Japan sind so überdeutlich, dass man schon etwas genervt sein kann, weil Shion Sono einen immer wieder mit der Nase drauf stößt. Die Jugend, ist von ihren kaltherzigen, nur dem eigenen Wohlbefinden verpflichteten, Eltern nicht nur allein gelassen. Mehr noch – sie sind ihnen ein lästiger Klotz am Bein, den es gilt, zu beseitigen. So kann keine Liebe entstehen und die Hauptfigur Yuichi muss im Laufe des Filmes erst lernen, anderen zu vertrauen, und so etwas wie Mitgefühl zuzulassen. Auf diesem Weg begleitet ihn Keiko, die quasi das andere Extrem darstellt. Ihre Sehnsucht nach Liebe ist so groß, dass Yuichi für sie zur fixen Idee wird und psychotische Züge annimmt. In „Himizu“ ist Japans Jugend emotional verkrüppelt. Erst die Tabula Rasa des Tsunami, der alle alten Lasten hinweggefegt hat, kann einen Neuanfang versprechen. Doch bis dahin ist es ein weiter und unsicherer Weg. Und immer wieder lockt das Angebot, dass alles einfach durch eine kurzes Durchziehen des Abzugs zu beenden, statt den steinigen Weg zu beschreiten.

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Yuichi sehnt sich danach ein einfaches Leben zu führen. Nicht aufzufallen, sondern einen ruhigen Platz für sich zu finden und ein guter Mensch zu sein. Doch seine Umwelt lässt das nicht zu. Da gibt es den Lehrer, der seine Schüler mit hohlen Durchhalteparolen traktiert – ebenso, wie es die Politiker nach Fukushima getan haben. Der Vater, der einst lieber die Versicherungssumme für den Tod Yuichis kassiert hätte und diesem noch heute vorwirft, einen Schwimmunfall überlebt und ihn damit um sein Geld gebracht zu haben. Dann gibt es die skrupellosen Yakuza, die allein für ihren Profit leben und für die Menschenleben nichts zählen. Die Mutter, die ihren Sohn bei der erstbesten Gelegenheit allein zurücklässt und die Eltern, die ihrer Tochter einen Galgen bauen, in der Hoffnung sie bringt sich um. Mehr als einmal werden die Kinder beschimpft, sie wären nur wertloser Ballast. Manche von ihnen resignieren, anderen werden wahnsinnig und ziehen mordend durch das Land, um etwas zu ändern. Auch Yuichi droht dieses Schicksal. Auch er weiß nicht, wie er die Umstände sonst ändern könnte. Ohne Gewalt. Ohne die Verhältnisse zu vernichten. Nur Liebe und Mitgefühl kann ihn retten.

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Allein die obdachlosen Opfer des Tsunami werden positiv dargestellt. Aber auch der einzige Charakter, der aus dieser Gruppe deutlicher hervorgehoben wird, ein von Tetsu Watanabe gespielter, liebenswert-verwirrter Mann, der im Tsunami alles verlor, wird zum Mörder. Obwohl er nur Gutes tun und Japan – in Gestalt des jungen Yuichi – eine Zukunft geben will, lädt er mörderische Schuld auf sich. Bedauerlicherweise sind aber, bis Yuichi und Keiko, alle Figuren stark überzeichnet und übertreten manchmal sogar die Grenze zur Parodie.

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Bei Shion Sono wird immer viel über Gewaltdarstellungen geschrieben. In „Himizu“ sind diese nicht besonders grafisch, aber die Brutalität ist trotzdem allgegenwärtig und drückt sich auch in dem gefühlskalten Umgang der Figuren untereinander aus. Besonders wenn Yuichi immer wieder auf Keiko einschlägt, ist dies nur schwer hinzunehmen. Generell wechselt der Film beständig zwischen einem rauen Ton, der sich auch in den schroffen Bildern ausdrückt, und einem beinahe liebeswürdigen, mit dem – gerade zum Finale hin – wunderbar durchkomponierten Bildern einhergeht. Der ganze Film wirkt mit seinen über zwei Stunden sehr überladen. Es werden viele Charaktere vorgestellt und ihre ganz persönlichen Geschichten zu Nebenhandlungen verarbeitet. Doch diese werden größtenteils nur kurz angerissen und nicht auserzählt. Man kann diese Vignetten zwar auch selber im eigenen Kopf weitererzählen, denn Sono liefert hierfür genug Futter. Manchmal allerdings, wünschte man sich mehr hören. Und manchmal wäre es vielleicht besser, Sono hätte diesen oder jeden Strang aus seinem Film heraus gekürzt. Generell entsteht bei „Himizu“ ein Gefühl der Unfertigkeit. Als ob hier noch etwas fehlen würde, oder dort etwas ganz unnütz aus der Geschichte herausragen würde.

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Herausragend sind die beiden Hauptdarsteller, Shôta Sometani und Fumi Nikaidô, die die schwierige Aufgabe meistern, den Zuschauer mit ihren, im Grunde doch eher unsympathischen, Figuren mitleiden zu lassen. Gerade der von Shôta Sometani gespielte Yuichi macht es einem nicht leicht, wenn er immer wieder auf die ihn anhimmelnde Keiko einschlägt oder griesgrämig jegliche Hilfe und alles Mitgefühl abblockt. Trotzdem erinnert er in seiner intensiven, sehr physischen Darstellung ein wenig an den „Rebellen ohne Ziel“ James Dean. Fumi Nikaidôs Keiko hat großes Potential zur Nervensäge zu werden, durch ihre sensible Darstellung empfindet man aber mehr Mitleid als Genervtheit. Völlig zu Recht wurden beide bei den 67. Filmfestspielen in Cannes gemeinsam mit dem Marcello-Mastroianni-Preis für die besten Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet.

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Wie bereits eingangs geschrieben, ist dies meine erste Begegnung mit Shion Sono. Liest man die Kritiken im Netz, wird oft die Beschwerde hervorgebracht, Sono würde sich in „Himizu“ zu oft selbst zitieren und seinen vorherigen Werken nicht viel Neues hinzufügen. Für mich war mein erster Sono zwar nicht gänzlich perfekt, aber doch so interessant, dass er mich dazu angeregt, mich eingehender mit diesem Regisseur zu beschäftigen. Vielleicht werde ich demnächst mal seinen 4-stündigen „Love Exposure“ probieren, der vielerorts als sein Meisterwerk angepriesen wird.

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Das Coming-of-Age-Drama „Himizu“ ist ein Gleichnis auf die japanische Gesellschaft heute. Seine interessante Geschichte wirkt durch zu viele Nebenstränge etwas unfertig und überladen. Dank der intensiven Darstellung seiner beiden Hauptdarsteller, verliert man aber nie das Interesse am Schicksal der Figuren. Daneben wirken alle anderen Charaktere allerdings völlig überzeichnet. Der hastig eingefügte Fukushima-Hintergrund stört nicht und visualisiert noch einmal sehr deutlich die Aussage des Filmes, dass die japanische Gesellschaft und ihre Werte, wie Familie und Mitgefühl, in Trümmern liegen.

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Die Splendid DVD hat wieder einmal ein hervorragendes Bild, was besonders in den Szenen zur Geltung kommt, in denen Sono auf eine elegante Bildgestaltung wert legt. In anderen Szenen, die mit Handkamera gefilmt werden, wirkt das Bild rauer. Wie immer bei japanischen Filmen ist die Originaltonspur absolut vorzuziehen, da sie die Stimmung des Filmes und die Charaktere unterstützt. Die solide deutsche Synchronisation sollte nur eine Notlösung sein. In einem ca. 80-minütigen „Making Of“, welches als Drehtagebuch daher kommt, erhält man zahlreiche Einblicke in die Dreharbeiten und einige Interviews mit Shion Sono.

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