Für meinen zweiten Tag beim 19. Filmfestival in Oldenburg hatte ich mir eine Menge vorgenommen. Da der erste Film um 15:00 Uhr startete, plante ich, diesmal voll durchzuziehen und inklusive des Mitternachtsfilms fünf Filme hintereinander zu schauen. Etwas, was ich schon seit Jahren nicht mehr getan habe. Von daher war ich neugierig, ob ich auch wirklich bis zum letzten Film durchhalten würde. Nach einem kurzen Einkaufsbummel durch die schöne Oldenburger Innenstadt ging es dann wieder im Cine K los.
Der französische Film„The Girl from Nowhere“ hat gerade den Hauptpreis in Locarno gewonnen, von daher war meine Erwartungshaltung recht hoch. Leider konnte der Film diese nicht wirklich erfüllen. „The Girl from Nowhere“ ist ein Zwei-Personen-Stück über einen alten Mathematikprofessor, der nach dem Tod seiner Frau seit vielen Jahren allein in seiner geräumigen Wohnung in Paris lebt. Eines Tages wird vor seiner Haustür ein junges Mädchen von ihrem Freund verprügelt. Der Professor geht dazwischen und nimmt das Mädchen bei sich auf. Natürlich hegt er bald Sympathien für die geheimnisvolle junge Frau und macht sie zu seiner Sekretärin, denn er schreibt gerade an einem Buch über Mythen und Religion. Was folgt, ist so vorhersehbar, wie altbekannt. Der alte Mann verliebt sich in die junge Frau – auch wenn er mehr väterliche Gefühle für sie hegt -, die er bald schon für die Reinkarnation seiner verstorbenen Frau hält. Die junge Frau ist zunächst abwehrend, bleibt dann aber bei dem sehr viel älteren Mann und entwickelt ebenfalls eine Art Liebe für ihn. Unterfüttert wird dies mit zahlreichen metaphysischen Spielereien (so spielen Geistererscheinungen eine große Rolle) und viel Philosophieren über Religion. Der Film wirkt – und ist es irgendwie wohl auch – wie ein Amateurfilm, bei dem sich zwei Leute mit einem Kameramann in einer Wohnung einschließen (die Wohnung im Film ist tatsächlich die des Regisseurs, Autors und Hauptdarstellers Jean-Claude Brisseau) und zusammen einen Film runterdrehen. Der Video-Look, die billigen Effekte und die merkwürdig schluderige Machart (es gibt zahlreiche Anschlussfehler, Tonschwankungen und Beleuchtungsfehler) zeugen von einem minimalen Finanz- und Zeitbudget. Immerhin findet Jean-Claude Brisseau in seinen metaphysischen Szenen recht schöne Bilder und bei einer Schockszene bleibt einem fast das Herz stehen. Insgesamt plätschert der Film aber nur so vor sich hin, ist dabei nicht unsympathisch, aber auch nicht wirklich interessant. Eben ein kleine Fingerübung, die ursprünglich wohl vor allem als Demo-Tape für Hauptdarstellerin Virginie Legeay gedacht war.
Sehr amüsant gestaltete sich die Frage- und Antwort-Runde mit Jean-Claude Brisseau nach dem Film. Schon vor dem Film entschuldigte er sich dafür, dass er von seiner Hauptdarstellerin Virginie Legeay überredet wurde, selber die männliche Hauptrolle zu übernehmen, denn dadurch wäre das Publikum nun gezwungen, eineinhalb Stunden sein Gesicht zu sehen. Das veranlasste eine ältere, sehr auffällige Dame zu einen schrillen „Gorgeous!“ Schrei. Nach dem Film entspann sich dann ein ziemlich bizarrer Dialog zwischen besagter Dame und Brisseau, in dem es weniger um den Film als um Tischrücken, Okkultismus zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und Vincent Van Goghs Ehefrau ging. Brisseau schien das aber ziemlich zu genießen und kam aus dem Plaudern gar nicht mehr heraus, so dass die sehr sympathische und gute Dolmetscherin zum Teil größte Schwierigkeiten hatte, seinen Redefluss zu stoppen und den nicht französischkundigen Zuschauern zu übersetzen, was er da ausführte. Der großartigste Zwischenruf kam jedoch von einem älteren Zuschauer, der mit der auffälligen Dame da war. Er bat den Regisseur, doch bei seinem nächsten Film bitte zu berücksichtigen, dass das Publikum die Untertitel mitlesen müsse, und darum solle er doch am Besten ein paar Pausen in seine Dialoge einbauen. Auch nicht schlecht.
Durch die lange Frage & Antwort-Runde musste ich mich dann sputen, um ins Cinemaxx zu kommen.
Dort gab es US-Indie-Kino wie gehabt: „The Taiwan Oyster“, das Debüt des Regisseurs Mark Jarrett. Hier geht es um zwei US-Amerikaner, wie man sie schon in unzähligen Indie-Filmen gesehen hat. Der introvertierte, grüblerische Slacker (Billy Harvey), der sein Leben nicht auf die Reihe bekommt und sich durch den Tag treiben lässt. Und den energetischen Clown, den Macher und Muskeltyp, der ständig durch übertrieben gute Laune und verrückte Ideen glänzt (Jeff Palmiotti, der sehr an den jungen Bill Paxton zu „Aliens“-Zeiten, gefangen im Körper eines Chippendales, erinnert).
Nun hat es diese Beiden irgendwann nach Taiwan verschlagen, wo sie in einem Kindergarten arbeiten. Als eines Tages bei einer bierseligen Party ein Amerikaner ums Leben kommt, stehlen sie seine Leiche aus der Leichenhalle und machen sich auf den Weg, um diese an einem würdigen Ort zu beerdigen. Und dies, obwohl sie ihn gar nicht kannten. Ihr Argument ist nur, dass er „a fellow countryman“ wäre. Auf dem Weg durch Taiwan schließt sich ihnen eine schöne junge Frau (Leonora Moore) an. Selbstverständlich entwickelt sich zwischen ihr und dem Slacker eine Liebesgeschichte, der gutgelaunte Muskeltyp bringt die drei mit seinen verrückten Ideen immer wieder in Schwierigkeiten, und am Ende ist der Slacker ein Stück weit erwachsen geworden. Das kennt man alles zu Genüge. Sogar in Deutschland wurde ja erst vor kurzem mit „Friendship!“ ein erfolgreicher Film nach genau demselben Muster gedreht. So bleiben die Überraschungen aus und alles wird routiniert nach Schema F abwickelt. Immerhin bekommt man schöne Bilder aus dem unbekannten Taiwan zu sehen. Der Film ist auch recht kompetent gemacht und sieht nach Kino aus.
Auf den nächsten Film (wieder im Cinemaxx) war ich sehr gespannt. Ein slowenischer Film (ich glaube, der erste, den ich überhaupt gesehen habe), der den Zuschauer mit einem wahren Bildrausch begeistern sollte. Der anwesende Regisseur sprach davon, dass man sich einfach den Bildern hingeben und nicht zu viel über die Handlung nachdenken sollte.
Der Film heißt„Archeo“ und natürlich kann man einen „archaischen“ Film drehen. Ohne Dialog, nur durch kraftvolle Bilder erzählen und dafür Archetypen verwenden. Das kann auch sehr spannend sein und einen schier überwältigen. Nichols Winding Refn hat dies stellenweise mit seinem großartigen „Walhalla Rising“ vorgemacht. Diesen Film hat wahrscheinlich auch der Slowene Jan Cvitkovic gesehen und sich gedacht, das mache ich jetzt auch. In der Einleitung zum Film sagte er, er hätte einfach die Bilder verwendet, die ihm kurz vorm Einschlafen gekommen sind. Ich muss gestehen, diese Bilder habe ich auch kurz vorm Einschlafen gesehen, nämlich während der Vorstellung. Und das lag nicht daran, dass dies der dritte Film des Tages war. Jan Cvitkovic möchte bildgewaltiges Kino machen, hat dafür aber nicht die adäquaten Mittel. Alles wirkt eher ärmlich. So, als ob drei Menschen an einem Nachmittag komisch angezogen durch die slowenische Berg- und Waldlandschaft spaziert wären und dabei von einem Regisseur gefilmt wurden, der sie spontan mal diese und mal jene Dinge tun lässt. Was wohl auch in Realität so war.
Das wirkt dann manchmal peinlich, manchmal einfach nur langweilig. Exemplarisch soll eine Szene erwähnt werden, in der sich die Frau auf dem steinigen Boden wälzt und Kieselsteine auf den Bauch streut. Wenn sie sich nun in den Boden gegraben hätte oder sich die Steine in den Mund gestopft hätte, das wären Momente, die man nicht vergisst. Aber nicht dieses Kieselchen-auf-den-Bauch-streuen. Nur selten schafft es Jan Cvitkovic, wirklich kräftige Bilder zu erschaffen, z.B. wenn die Frau nackt durch einen See taucht, dabei aus der Vagina blutet und dann aus der Tiefe der Mann auftaucht, um durch den Blutschleier zur Oberfläche zu steigen. Aber meistens sieht der Film so aus wie gewollt, aber nicht gekonnt. Einmal sieht der kleine Junge einer Schildkröte zu. Ich gebe zu, bei der Szene bin ich kurz eingenickt, aber als ich wieder aufwachte, sah er immer noch der Schildkröte zu. Vielleicht soll das die Zeit repräsentieren, die für kleine Kinder langsamer vergeht als für Erwachsene, vielleicht wollte der Regisseur aber auch nur irgendwie auf 80 Minuten Spielzeit kommen. Bei seinem Film wird er allerdings auch von seinen Darstellern im Stich gelassen. Dass der Junge (Finzi Tommaso) kein Naturtalent ist, merkt man leider deutlich. Während die Frau (Medea Novak) mit ihrer herben Schönheit durchaus passend besetzt ist, wirkt der Mann (Niko Novak) leider nur lächerlich. Er besitzt keinerlei Charisma und agiert eher unbeholfen. Da hilft auch keine Verkleidung mit Neoprenanzug und Pailletten. Alles in allem ist der Film eine ziemliche Enttäuschung.
Nach einer kurzen Pause, die mit etwas Fastfood gestopft wurde (leider gibt es in unmittelbarer Nähe des Oldenburger Cinemaxx keine wirkliche Gastronomie), ging es weiter. D.h., es sollte eigentlich weitergehen, aber die Tür zum Kinosaal blieb geschlossen. Gründe wurden dafür nicht genannt, aber mir lief langsam die Zeit davon, denn bis zum nächsten Film blieben mir nur 15 Minuten Zeit, um das Kino zu wechseln, und die tickten gerade runter.
„Girls Against Boys“ von Austin Chick hat in der IMDb mit 4.3 Punkten eine recht schlechte Bewertung bekommen. Was ich nicht nachvollziehen kann. Zwar ist der Film meilenweit davon entfernt, ein Meisterwerk zu sein, aber er weiß gut und erfrischend zu unterhalten. Shea (Danielle Panabaker) hat Probleme mit Männern. Ihr Freund hat sie fallenlassen und nebenbei erwähnt, dass er Familie hat. Als sie ihre Wut und Trauer darüber auf einer wilden Party vergessen will, wird sie von einem der Partygäste vergewaltigt. Auf der Polizei wird sie weiter gedemütigt, und als sie darüber mit ihrem Ex-Freund sprechen will, versucht dieser ebenfalls, sich an ihr zu vergehen. Aber da gibt es noch ihre Freundin Lu (Nicole LaLiberte), die zu rabiaten Mitteln greift, um Shea zu rächen.
Der Titel kann also durchaus ernst genommen werden. Die Blutspur der beiden ist dabei überraschend explizit und bei einer besonders derben Szene verließen einige zartbesaitete Zuschauer aus dem Festivalspublikum den Saal. Nach Logik sollte man bei „Girls Against Boys“ allerdings nicht fragen, denn es ist doch recht unwahrscheinlich, dass die beiden Mädels auf ihrem blutigen Rachefeldzug unentdeckt bleiben. Auch ist es etwas weit hergeholt, dass Shea, nach ihren traumatischen Erlebnissen, die ganze Zeit in knappen Hot Pants und High Heels durch die Gegend stöckelt. Den männlichen Zuschauer freut dies genauso, wie das aufregende Outfit von Lu. Vielleicht soll dies repräsentieren, dass Frauen für Männer nur Sexobjekte sind, was der Film ja oberflächlich zu kritisieren vorgibt. Eigentlich aber bedient er nur Jungsfantasien, in denen schöne Frauen böse Dinge tun.
Allerdings muss man dem Film für seinen Mut Respekt zollen, einen Sympathieträger mal eben so über die Klinge springen zu lassen. Die sehr hübsche Danielle Panabaker liefert eine solide schauspielerische Leistung, aber der Film lebt ganz von Nicole LaLiberte, die nicht nur eine ungewöhnliche – und dabei sehr sexy – Erscheinung ist, sondern ihrem Charakter auch genau die richtige Portion „creepyness“ verleiht.
Durch die Verzögerung am Anfang musste ich etwas improvisieren, um es noch pünktlich vom Cinemaxx zum Cine K zu schaffen. Noch vor dem Abspann verließ ich meinen Platz und postierte mich am Ausgang, um sofort beim Schluss starten zu können. Das war etwas peinlich, denn der Regisseur des Filmes, Austin Chick, war anwesend und ich musste quasi vor seiner Nase aus dem Kino stürmen. Zudem hätte ich gerne die Frage&Antwort-Runde gehört. Aber was soll man machen, wenn man noch einen Termin auf dem Zettel hat und das Filmfestival seinen engen Zeitplan nicht einhält?
Der Sprint durch die Nacht hat sich aber gelohnt, denn ich kam gerade noch rechtzeitig zum Highlight des Festivals.
Ein Feuerwehrmann nimmt sich eine Zeitung, lässt die Hose runter und setzt sich so auf die Mitte der Straße. Im Hintergrund stehen rechts seine Kollegen und sehen ihm dabei zu, während links ein Autowrack ausbrennt. Etwas später springt ein Wecker von 7:59 auf 7:60 und ein Mann schreckt aus dem Schlaf hoch.
Quentin Dupieux alias Mr. Oizo, der französische Elektromusiker und Filmregisseur hat wieder zugeschlagen. Nach dem hochinteressanten „Rubber“ heißt sein neuer Film jetzt „Wrong“, und dies beschreibt sehr treffend den Inhalt seines absurden Streifens. Hier ist vieles falsch, verschoben, nicht richtig. Es regnet in Gebäuden, absurde Dialoge führen ins Nichts, Menschen sterben plötzlich und tauchen ebenso unverhofft wieder auf. Dabei ist der Film ungemein komisch, wobei auch stets eine gewisse Traurigkeit unter den Bildern spürbar ist. Im Mittelpunkt des absurd-surrealistischen Meisterwerks steht Jack Plotnick als Dolph Springer. Ein schmächtiges Männchen in einem zu kleinen Anzug, dessen Leben immer weiter auseinanderbricht, was es mit großen und erstaunten Augen beobachtet, aber nicht akzeptiert. Wie schon bei „Rubber“ inszeniert Quentin Dupieux mit ruhiger Hand und nimmt das Tempo heraus, was die satirische Komik aber noch unterstützt und dem Film zusätzlich eine traumartige Stimmung verleiht.„Wrong“ ist ein schreiend komischer Film, bei dem auch irgendwo immer Beckett und Kishon um die Ecke zu lugen scheinen. Mit „Wrong“ ist Quentin Dupieux endgültig zu einem der spannendsten Regisseure der Gegenwart aufgestiegen. Mit „Wrong Cops“ steht schon seine nächste Produktion in den Startlöchern, bei der Marilyn Manson die Hauptrolle spielen wird.
Nach diesem Highlight war für mich das 19. Internationalen Filmfestival Oldenburg um 1:45 Uhr vorbei. Zwar hatte ich am nächsten Tag eigentlich noch „Zero Killed“ auf dem Zettel, aber dafür hätte ich mir bis 15:00 Uhr irgendwo im ausgestorbenen Oldenburg die Zeit totschlagen und dann auch noch zum „EWE Forum“ raus fahren müssen. Da die VIP-Lounge am Sonntag verwaist war und „Zero Killed“ eh keine ganz so hohe Priorität bei mir genoss, sondern mangels Alternativen nur eine Notlösung war, entschloss ich mich, hier abzubrechen und wieder nach Bremen zurück zu fahren.
Es war wieder ein tolles Filmfestival mit vielen netten Leuten. Ich hoffe, dass sich die unsäglichen Querelen zwischen Politik und Filmfestleitung möglichst schnell in Luft auflösen und es auch noch ein 20. Internationales Filmfest Oldenburg geben wird. Wenn nicht, dann hoffe ich, dass dieses liebenswürdige Festival irgendwo anders neu aufersteht.
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