Australien 1900: Am Valentinstag unternimmt eine Gruppe Mädchen aus einem nahegelegenen Internat einen Ausflug zum Hanging Rock, um dort ein Picknick zu veranstalten. Als vier der Mädchen einen Spaziergang machen, verschwinden sie plötzlich ohne eine Spur zu hinterlassen. Auch eine der Lehrerinnen ist unauffindbar. Suchexpeditionen bleiben erfolglos. Dann taucht plötzlich eines der Mädchen wieder auf, doch sie kann sich an nichts erinnern…
Zu meiner großen Schande muss ich gestehen, dass Peter Weirs großer Klassiker „Picknick am Valentinstag“ bisher immer an mir vorbeigegangen ist. Natürlich hatte ich schon eine Menge über den Film gehört und gelesen, trotzdem traf er mich nun recht unvorbereitet. Obwohl kein Horrorfilm, ist „Picknick am Valentinstag“ einer der gruseligsten Filme, die ich bisher gesehen habe. Wobei es für mich gewiss von Vorteil war, dass ich der hartnäckigen Legende aufgesessen war, dass es sich hier um die Verfilmung realer Geschehnisse handeln würde („Blair Witch Project“ lässt grüßen). Das ist leider unwahr. Der Film beruht auf dem Roman von Joan Lindsay, welcher pure Fiktion ist und auch nicht von irgendwelchen Ereignissen inspiriert.
Aber auch mit diesem Wissen ist „Picknick am Valentinstag“ ein wahrhaft unheimlicher Film, eine ganz eigene, dichte Stimmung durchzieht den Film und legt sich auf das Bewusstsein des Zuschauers. Und dann ist da auch diese drängende, sexuelle Aufladung. Aus jeder Handlung der jungen Mädchen drückt sich die Entdeckung der eigenen Sexualität aus und der gewaltige Druck der Institution, diese möglichst zu unterdrücken. Bezeichnend hierfür ist die Szene, die den Beginn des Ausfluges zum Hanging Rock zeigt. In dieser wird den Mädchen verboten, vor Verlassen der Stadt ihre Handschuhe auszuziehen. Kaum ist die Stadtgrenze passiert, beginnen die Mädchen eilig und unter großem Lachen sich der Handschuhe zu entledigen. Mehr zeigt die Szene nicht, aber man spürt unter der Oberfläche die sexuelle Spannung. Ähnliches gilt später, wenn drei der vier Mädchen, die den Hanging Rock erkunden, sich ihrer Strümpfe und Schuhe entledigen. Auch hier passiert nichts Explizites, aber man hat das Gefühl, als würden sie sich nackt ausziehen und sich gegenseitig ihre Blöße präsentieren. Selbst in der frühen Begegnung zwischen dem reichen jungen Michael und dem einheimischen Bediensteten Albert liegt eine gewisse homoerotische Spannung, die nie ausgesprochen oder direkt gezeigt wird, aber trotzdem deutlich spürbar ist. Dieser Subtext durchdringt den ganzen Film. Und sein großer Verdienst ist es, dies fühlbar zu machen, ohne irgendwas zu zeigen.
So geht er auch mit dem Horror um. Nie sieht man, was mit den Mädchen geschieht oder warum ihre Retter sich verletzen. Auch die unheimlichste Szene – die sich um die altjüngferliche Lehrerin und eine rote Wolke dreht – wird nicht gezeigt, sondern nur erzählt. Das Mysterium bietet keine logische Erklärung. Alle Versuche, das Schicksal der drei Mädchen und der Lehrerin zu erklären, verlaufen im Sand. Und gerade das Unerklärbare ist es, was den wahren Horror verbreitet. Wüsste man, dass hinter all dem ein unheimlicher Maskenmann mit Machete oder ein rächender Geist stecken würde, so wäre man doch irgendwie beruhigt. Dies wäre zwar auch unheimlich, aber „erklärbar“ und man könnte damit umgehen. „Picknick am Valentinstag“ verweigert sich aber jeder Erklärung, liefert noch nicht einmal Indizien, auf die man eine eigene Theorie stützen könnte. Diese Hilflosigkeit ist es, die einen fertig macht.
Aber der Film bietet noch viel mehr Themen, die einen beschäftigen können. Da ist die feine britische Gesellschaft, die versucht, im wilden und ungebändigten Australien ihre Rituale und Standesspielchen aufrecht zu erhalten. Rächt sich hier die Natur für den Einfall der Snobs? Oder sind es die Eingeborenen, die hier – bis auf einen kurz ins Bild gerückten Fährtenleser – sonst keine Rolle spielen? Sind es die steifen Riten der besseren Gesellschaft, die die Mädchen einschnüren (sogar wörtlich, denn mehr als einmal spielen die Korsetts der jungen Damen eine Rolle) und ihnen die Luft zum Atmen nehmen? Einer Gesellschaft, in der die Zeit stehengeblieben ist. Ist es nicht so, dass am Hanging Rock plötzlich die Uhren stehen bleiben, woraufhin die Mädchen sich aufmachen, neues Land zu erkunden und dabei für immer verschwinden?
Das Verschwinden der Mädchen beeinflusst das Leben aller und führt bei den einen zum Untergang, und bei den anderen zur Befreiung. Klassengegensätze, sexuelle Unterdrückung, die Gefangenschaft in starren Ritualen. All dies wird in diesem mysteriösen, unheimlichen Film zusammengefasst. Dazu findet Peter Weir wahrhaft traumhafte Bilder, die zum Teil wirken, als hätte jemand einen schwülen Sommertraum auf Leinwand gemalt. Aber die schönen Bilder wirken auch extrem verstörend. Es erinnert an die Anfangsszene in David Lynchs „Blue Velvet“, wo eine klischeehaft, kitschige Vorstadtidylle gezeigt wird und dann der Schwenk auf den Boden eine unheimliche, bedrohliche Welt voller Insekten zeigt. In „Picknick am Valentinstag“ sieht man die Insekten nicht, aber man spürt sie.
Der Film wird unterstützt von einem fantastischen Soundtrack (bei dem u.a. Gheorghe Zamfirs Pan-Flöte für die rechte Stimmung sorgt) und so entsteht so eine geheimnisvolle Welt zwischen Traum und Wachen, zwischen altem England und archaischem Australien, die den Zuschauer ins Bild hineinzieht.
Koch Media hat den Film in zwei Varianten veröffentlicht. Für diese Review stand mir die einfache Ausführung zur Verfügung. Diese enthält den „Director’s Cut“, den Peter Weir einige Jahre nach der Kinoaufführung anfertigte und an einigen Stellen straffte. Das Bild ist dem Alter des Filmes entsprechend gut. Für Fans des Streifens empfehlenswerter (wenn auch ungleich teurer) ist das 3-Disc-Media-Book. Dieses beinhaltet auf DVD und BluRay den Director’s Cut, sowie nur auf DVD die ursprüngliche Kinofassung. Zudem wurden die umfangreichen Extras der amerikanischen Criterion-Fassung übernommen, darunter die fast zweistündige Dokumentation „Ein Traum in einem Traum“, eine erste Kurzfilmadaption des Romans , zahlreiche Interviews, entfallene Szenen und eine weitere 25-minütige Doku namens „Erinnerungen: Hanging Rock 1900“.