Filmbuch-Rezension: Christian Keßler “Bleigewitter über Cinecittà – Gangster und Polizisten im italienischen Kino von 1960-1984“

1999 erschien im Terrorverlag das deutschsprachige Standardwerk zum italienischen Gangster- und Polizeifilm „Der Terror führt Regie“ von Karsten Thurau und Michael Cholewa. 2008 erfuhr das Werk noch einmal eine schön gestaltete, erweiterte Neuauflage im MPW Verlag. Diese Ausgabe ist leider mittlerweile nur noch zu Mondpreisen im dreistelligen Bereich zu bekommen. Lange Zeit war „Der Terror führt Regie“ die einzige umfangreiche Veröffentlichung zu diesem Thema. Seit November diesen Jahres gesellt sich ein zweites Buch hinzu: „Bleigewitter über Cinecittà“ von Christian Keßler. Nach seinen Ausflügen in die Welt des Italo-Western (ebenfalls wie „Der Terror führt Regie“ im Terrorverlag erschienen und mittlerweile leider auch nur noch für viel Geld antiquarisch zu bekommen) und dem Giallo ist dies nun sein drittes Buch (nimmt man das ebenfalls schon lange vergriffene Frühwerk „Das wilde Auge“ mal außer acht), welches sich mit einem der großen Phänomene des populären italienischen Kinos der 60er, 70er und teilweise auch der 80er beschäftigt.  Damit knüpft er auch direkt an seine legendären Artikel in der „Splatting Image“ an, mit denen er sich in den 90er Jahren in die Herzen der Liebhaber des „unterschlagen Films“ geschrieben hat.

Christian Keßler schreibt im Vorwort, dass er im Vergleich zu seinem Buch über den Film Noir, welches zuletzt von ihm im Martin Schmitz Verlag erschienen ist, etwas „flapsiger“ unterwegs sei. Wer nun befürchtet, dass seine Filmvorstellungen mit billigen Witzchen und schlechten Wortspielen gespickt seien, der kennt Christians bisheriges Werk nicht. Christians frühen Artikel in der „Splatting Image“ waren wegweisend für eine ganze Generation, die darüber das Italo-Kino – vor allem der 70er Jahre – kennen und lieben gelernt hat. Und ja, die Sprache ist flapsig. Aber (und dies ist ein großes aber) niemals herablassend. Dies kann man erst dann wirklich wertschätzen, wenn man die vielen Versuche zahlreicher Epigonen gelesen hat, die sich von Christians Stil zwar haben inspirieren lassen – ihn aber nie wirklich verstanden haben. Christians Formulierungen sind fantasiereich, humorvoll und ja: „flapsig“. Aber sie treffen immer den Kern der Sache. Wer etwas liest wie „In der Hauptrolle stellt Luc Merenda das Kantengesicht der Gerechtigkeit dar, ein riesiger Mund, Mundwinkel, die selbst dann nach oben weisen, wenn er todernst kuckt, echte Dressmanqualitäten in seinen Bewegungen – jemand, der sich im eigenen Saft offensichtlich wohl fühlt“, der hat ein wunderbar akkurates Bild von Luc Merenda vor Augen, welches Merendas Stärken und Schwächen liebevoll in einem einzigen Satz vereint. Vergleicht man dies mit den Nachahmern, fühlt man den Unterschied. Während Christian voller Humor, aber auch genauen Blick und treffsicheren Worten beschreibt und dabei den Film in den Vordergrund stellt, hat man bei den Imitatoren das Gefühl, es geht eben nicht um den Film. Dieser ist eher ein Vehikel, um sich selbst zu überhöhen und mit möglichst herablassenden und verhöhnenden Worten zu zeigen, wie lustig und cool man selber doch ist. Bei Christian ist es in den Arm nehmende Neckereien, bei den Anderen ein auf den Arm nehmender, beißender Sarkasmus. Da geht es dann in erster Linie um den Autoren, weniger um die Sache. Und während Christian bemüht ist, erst einmal positiv an einen Film heranzugehen, so herrscht dann anderswo scheinbar die Denke vor: „Der Film ist eh kacke, da kann ich jetzt mal so ordentlich ‚lustig‘ vom Leder ziehen“. Was schade ist, aber Christians Bücher umso wertvoller macht.

Nun aber zum Buch selber. War Thurau/Cholewas „Der Terror führt Regie“ noch auf die Jahre 1968 bis 1982 beschränkt und ließ z.B. Mafiafilme (wie lustigerweise den titelgebenden „Der Terror führt Regie“), Komödien oder nicht in Deutschland erschienene Filme aus (diese wurden im umfangreichen Anhang nur knapp mit Namen und Credits vorgestellt), so spannt Christian Keßler den Bogen weiter. „Bleigewitter über Cinecittà“ beginnt im Jahre 1960 und damit in den Ausläufern des Neorealismus. Erster besprochener Film ist „Der Bucklige von Rom“. Der Letzte ist Sergio Leones amerikanisch co-produzierter Schwanengesang „Es war einmal in Amerika“. Ein mehr als würdiger und logischer Abschluss.

Neben den klassischen Polizieschi und Gangsterfilmen erlaubt sich Christian auch immer wieder Ausflüge in artverwandte Gefilde. Beispielsweise dem Heist-Film oder der Komödie. Die Filmvorstellungen sind gespickt mit Anekdoten und Informationen zu Regisseur*innen und Darsteller*innen. Aber auch Informationen, welche die Filme in einen historischen oder filmgeschichtlichen Kontext setzen. Was wo den Schwerpunkt ausmacht, ist vor allem dem jeweiligen Film geschuldet. Da wird dann schon ein Unterschied gemacht, ob nun „Die Rache des Paten“ oder „Der Fall Mattei“ besprochen wird. Und das passt dann auch immer sehr gut und macht das Lesen sehr abwechslungsreich. Dazu ist das Buch wie einst „Der Terror führt Regie“ hübsch bebildert. Eine Galerie der wichtigsten Darsteller und Darstellerinnen (letztere oftmals wie Gott sie schuf) wie sie in „Der Terror führt Regie“ vorhanden war, fehlt hier. Aber die hätte auch, wenn man ehrlich ist, nicht wirklich gepasst. Fazit: Wieder ein wunderbares Buch im typischen Keßler-Stil, welches einen leichtfüßig durch die bleierne Zeit Italiens führt. Und einmal mehr großen Appetit auf die entsprechenden Filme macht. Gut gemacht, Herr Keßler! Und ich freue mich schon sehr auf sein nächstes Buch, welches einen in das Reich des italienischen Horrorfilm entführen soll.

Christian Keßler “Bleigewitter über Cinecittà – Gangster und Polizisten im italienischen Kino von 1960-1984“, Martin Schmitz Verlag, 360 Seiten, gebunden, farbige Abbildungen, € 36,00

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