DVD-Rezension: “Das 10. Opfer”

Die Welt der Zukunft. Es gibt keine Gewalt oder Kriege mehr. Wer einen Kick braucht, kann sich bei der „Großen Jagd“ bewerben. Die große Jagd ist ein staatlich organisiertes und sanktioniertes Spiel, bei dem sich jeweils zwei vom Computer ausgesuchte Menschen jagen und töten. Dabei ist jeder Mitspieler 5x Opfer und 5x Jäger. Wer alle 10 Runden überlebt, wird mit Reichtümern überhäuft. Aber das passiert sehr selten. Der Jäger hat dem Opfer gegenüber den Vorteil, dass er alles über seine Beute weiß. Das Opfer wiederum hat keine Ahnung, wer sein Jäger sein könnte. Nachdem die Amerikanerin Caroline Meredith (Ursula Andress) ihre 9. Jagd erfolgreich absolviert hat, wird ihr von einem großen Tee-Konzern das finanziell sehr reizvolle Angebot gemacht, die Tötung ihres 10. Opfers live als TV-Werbespot mit zu übertragen. Caroline nimmt an. Als Opfer wird ihr der Italiener Marcello Poiletti (Marcello Mastroianni) zugelost. Dieser hat gerade erfolgreich seine 6. Jagd vollendet, Geldsorgen und Ärger mit Frau und Geliebter. Nichtsdestotrotz ist er nicht begeistert von der Idee, sich so einfach abknallen zu lassen.

1965 drehte Elio Petri diesen futuristischen Thriller. Er basiert auf einer frühen Kurzgeschichte von Robert Sheckley: „The Seventh Victim“. Diese nimmt bereits Handlungselemente seiner weitaus berühmteren Novelle „The Prize of Peril“ vorweg, welche später u.a. dem deutschen Kult-TV-Film „Das Millionenspiel“ als Inspirationsquelle diente.

Petris Film legt den Schwerpunkt ganz auf den bitteren Zynismus der Geschichte. Wenn immer wieder wild schießende Jäger und Opfer durch das Bild laufen, erkennt man zudem deutlich, dass Petri der Sinn nach einer überzogenen Satire und weniger nach einem spannungsgeladenen Actionfilm stand. In einer Szene wird gar ein Jäger von dem Kellner eines exklusiven Clubs (in dem Jagdverbot herrscht) wie ein ungezogener Junge am Ohr gezogen. Dies erinnert dann sehr Pythonesque Absurditäten und könnte auch von einem Terry Gilliam stammen.

In der Welt, in der „Das 10. Opfer“ spielt, hat scheinbar die Pop-Art der 60er Jahre die Weltherrschaft übernommen und dementsprechend besteht das Dekor des Films auch aus den feuchten Träumen eines Carnaby-Street-Nostalgikers. Überhaupt kann man nicht über „Das 10. Opfer“ schreiben, ohne auf dieses grandiose, minimalistische Design einzugehen. Mit nur einigen sorgfältig platzierten Requisiten entsteht eine zeitlose Welt, die einerseits futuristisch, andererseits wunderbar nach 60er Jahre aussieht. Kleider in schreienden Farben in einer formal strengen, schwarz-weißen Kulisse oder anders herum. Auch das sehr geschmackssichere Kostümdesign kann man gar nicht genug loben. Ursula Andress in ihrem rückfreien, pinken Kleid, welches die Fantasie des Zuschauers anheizt ohne etwas zu zeigen. Und dann Marcello Mastroianni in seinem schwarzen Anzug, mit der großen Sonnenbrille und den blondierten Haaren. Jede Einstellung mit ihm kann man sich als Bild ausdrucken und als Anleitung zum Cool sein an die Wand nageln. Und über Ursula Andress nicht zuletzt durch die „Austin Powers“-Filme ikonisierten, silbernen Pistolen-BH, braucht man kein Wort mehr zu verlieren.

Elio Petris Film ist vollgestopft mit ätzenden Kommentaren zum damals aktuellen Zeitgeschehen. So verdingt sich Marcello des Geldes wegen nebenbei als Guru einer Gruppe Sonnenanbeter, die er Caroline gegenüber mit sarkastischen Kommentaren überzieht. Marcellos Eltern leben versteckt hinter einer Wand seines Hauses, da in der Zukunft alte Menschen überflüssig werden und vom Staat „entsorgt“ werden. Laut Caroline ist diese Praxis in den USA gang und gebe, woraufhin Marcello erwidert, dass die Italiener halt ein sentimentales Völkchen wären und hier fast alle ihre Eltern irgendwo im Haus verstecken würden.

Das Zusammenleben der Menschen in dieser zwar stylischen, aber unmenschlichen Welt ist ganz und gar gefühlskalt. Heiraten ist nicht mehr als ein Sport oder eine gesellschaftliche Konvention. Da ist dann auch die 18. Hochzeit nichts Ungewöhnliches mehr. Man lebt zusammen, aber nicht miteinander. Auch die grausame „große Jagd“ ist den Bewohnern der Zukunft ziemlich egal und für die Beteiligten lediglich eine sehr gute Einnahmequelle. Wer nicht an der großen Jagd teilnimmt, ignoriert sie oder nimmt die Tötungen als Unterhaltungsroutine in speziellen Clubs regungslos zur Kenntnis.

Zwischen Marcello und Caroline aber scheint sich so etwas wie eine Liebesgeschichte zu entwickeln. Aber für echte Liebe sind sie beide einfach schon zu abgestumpft. So imitieren sie eher alte Rituale, als echte Gefühle zu entwickeln. Dazu würde auch das extrem gallige Ende passen, wenn der Film doch nur Minuten eher aufhören würde. Leider versäumt Petri es, einen tiefschwarzen, bösen Schlusspunkt zu setzen und so läuft der Film noch etwas weiter.

Das nun folgende Finale ist aber völlig unpassend zur Aussage und den Regeln des Films. Zudem überdreht es die Komödie bis zum Slapstick und verrät so die zuvor geschaffene Stimmung. Vielleicht wollte Petri hier zeigen, dass das Aufkeimen menschlicher Wärme alle Regeln bricht und diese Welt auf den Kopf stellt. Möglicherweise hat er deshalb dieses Ende bewusst wie einen Fremdkörper inszeniert. Vielleicht wurde es ihm aufgezwungen. So oder so ist es schade.

Das Bild der Bildstörung-DVD ist sehr gut, auch wenn es am Anfang einige kurze Mal bei Kameraschwenks etwas wackelt. Das Bildformat ist 1,85:1 und anamorph. Der Ton liegt auf Deutsch und Italienisch jeweils in DD 2.0 Mono vor. Als Extras gibt es den deutschen und italienischen Trailer, die alternative deutsche Anfangssequenz und ein 11-seitges Booklet mit einem umfangreichen und höchst informativen Essay von Oliver Nöding. Highlight ist aber eine abendfüllende Dokumentation über Marcello Mastroianni aus dem Jahre 2006: „Marcello: A Sweet Life“.

Wie bei „Gandu – Wichser“ liegt der Limited Edition wieder eine Soundtrack-CD (68:39 Minuten, 22 Tracks) bei, die auch den Song „Spiral Waltz“ von Mina in gleich drei Versionen (englisch, italienisch und instrumental) enthält. Ein wahrhaft teuflischer Ohrwurm. Der Score von Piero Piccioni (u.a. „Camille 2000“) bewegt sich zwischen 60er Italo-Lounge und Modernem Jazz. Für den Liebhaber des Italo-Kinos der 60er und 70er ist er – ebenso wie der Film – unverzichtbar.

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2 Antworten zu DVD-Rezension: “Das 10. Opfer”

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  2. Erik Goldmann sagt:

    Das Ende des Films ist entgegen der Auffassung des Autors gut gelungen. Das Misslingen jeglicher Objektbeziehung in einer postfaschistischen und postmodernen Gesellschaft, in der die Einzelnen sich nur noch als wahnhafte Monaden begegnen können und der Tod vollends normalisiert wurde, wird in der finalen Szene, mittels eines ungewissen Hoffnungsblicks nach Amerika, emphatisch kontrastiert.

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