Oldenburg, Oldenburg, Oldenburg. Jedes Jahr freue ich mich schon lange auf diese Zeit im Jahr, in der ich endlich einmal für drei Tage komplett im Kino abtauchen kann. Mittlerweile hat man auch eine große Routine entwickelt, was man machen sollte (nimm die Filme, die Du gleich kriegen kannst) und was nicht (darauf spekulieren, dass es an der Abendkasse noch ein Restkontingent gibt). Man weiß, was einen erwartet (vor dem ersten Film gut essen, danach hat man dazu keine Zeit mehr) und wie die besten Laufwege von Kino zu Kino sind.
Das Festivalzentrum war diesmal in der Innenstadt in einem Bereich, wo ich bisher noch nie war. Und auch die drei Tage nicht mehr hinkommen sollte, da er doch sehr weit ab von allen Abspielstätten liegt. Habe ich die letzten Jahre noch gedacht, dass Möbelhaus beim Pferdemarkt wäre etwas unglücklich gewählt, so muss ich dieses Jahr sagen, das war noch Gold (weil zumindest in der Nähe von Exerzierhalle und Casablanca) gegen die diesjährige Location. Aber gut, ich bewege mich meistens eh nur in der Bahnhofstr. und da ist das dann eigentlich auch egal. Nur manchmal seufzte ich innerlich, wenn ich daran denke, wie toll die Zeiten waren, als das Zentrum noch in der Kulturetage war, man Zeit hatte zum Verweilen und spannende Leute traf.
Am Freitag ging es für mich im Theaterhof los. Und gleich gab es eine gehörige Verzögerung. Etwas, was sich leider durch die ersten beiden Tage ziehen sollte. Die Türen wurden zu spät geöffnet, dann mussten erst noch die Abstimmkarten ausgelegt werden (was der Regisseur des ersten Filmes dann auch gleich persönlich übernahm) und schließlich begann der Film mit einer ziemlichen Verspätung.
Cuck – Der fast 30jährige Ronnie lebt noch immer bei seiner kranken Mutter. Er hält sich mit kleinen Jobs über Wasser, wenn er nicht gerade vor dem Rechner hockt oder in der Uniform seines verstorbenen Vaters den großen Mann spielt. Ronnies Leben ist ziemlich im Arsch. Er ist zutiefst frustriert, bekommt immer wieder Wutanfälle, bei denen er hilflos die Fäuste ballt und ziellos in der Luft herumschlägt. Oder die sich im schlimmsten Falle gegen seine Mutter richten, die ihn mal verhätschelt, mal beschimpft. Ein Staatsbeamter schaut ab und zu nach dem rechten, und warnt Ronnie seiner Mutter nichts anzutun. Zaghafte Versuche Frauen anzusprechen bleiben erfolglos, was er mit unflätigen Beschimpfungen quittiert.
Nur im Internet findet er einen Ausweg aus seiner trostlosen Situation. Hier nennt er sich „TruePatriot89“ und schimpft über die Ausländer, die das Land überschwemmen und den wahren Amerikanern alles weg nehmen. Über die Frauen, die alles hinterhältige Schlampen sind und dem Mann zu gehorchen haben. Über Intellektuelle, die sich für was besseres halten und nur verweichlichte Arschlöcher sind. Seine Hassreden bringen ihm nach und nach einige Fans und der Daumen hoch wird Ronnies einzige Bestätigung im Leben.
Plötzlich scheint Ronnies Leben einen Sinn zu bekommen. Ein bekannter Rechtspopulist liked seine Seite und teilt seine Beiträge. Und eine attraktive Frau aus der Nachbarschaft scheint Gefallen an ihm zu finden. Zwar dreht sie Home-made Pornos mit ihrem Ehemann, aber Ronnie darf dabei sein und die Rolle des „Loser Husbands“ übernehmen, der vor der Kamera erniedrigend wird. Dafür erhält er eine gute Bezahlung und kann seiner Traumfrau nahe sein. Als diese sich dann tatsächlich auf heimlichen Sex mit ihm einlässt und er auf einer Demonstration in Washington von seinem großen Vorbild zum Essen eingeladen wird, glaubt sich Ronnie endlich für voll genommen und genießt sein Glück in vollen Zügen. Doch er weiß nicht, dass sich sein tiefer Sturz und die finale Erniedrigung schon ankündigt.
Regisseur Rob Lambert hat mit „Cuck“ einen sehr eindringlichen Film geschaffen, der es schafft, dass der Zuschauer Mitgefühl für seine Hauptfigur entwickelt, obwohl diese wahrlich nicht sympathisch gezeichnet wird. Ronnie ist niemand mit dem man nach Feierabend ein Bier trinken würde. Er hat definitiv zu viele Probleme für die er alle anderen verantwortlich macht. Er ist ein Rechter, ein Internet-Troll. Aber man sieht, wieso er so ist und hat das Gefühl, dass er unter anderen Umständen vielleicht ganz anders geworden wäre. Der Film entschuldigt seine Handlungen aber nicht. Und er spricht ihn nicht frei von Schuld.
Diese ambivalente Zeichnung wird ganz von Hauptdarsteller Zachary Ray Sherman getragen, der mit viel Mut zur Hässlichkeit ganz in die Figur Ronnie eintaucht und aus Ronnie einen lebendes, schwitzendes, echtes Wesen macht, dem man anderes Leben gegönnt hätte. Ronnie wird von allen Seiten ausgenutzt: Von der Pornodarstellerin und ihren zynischen Mann, von dem Rechtspopulisten, der Ronnies krudes Weltbild für seine Zwecke ausbeutet, von seiner Mutter, die ihn mal wie ein Baby, dann wieder wie einen Ehemann behandelt und mental ebenso instabil ist wie er. „Cuck“ ist ein starkes Stück Kino, welches einen mit Gewalt in eine Welt stößt, die man so eigentlich nicht sehen will. Das keinen moralischen Zeigefinger hochhält und sich auf keine Seite schlägt.
Ein Film, der eigentlich nur von zwei Dingen etwas abgeschwächt wird: Am Ende müssen nur die dran glauben, die „es verdient“ haben. Sodass man Ronnie auch als Helden feiern könnte, der für Ordnung sorgt. Was den Film in die Nähe von „Taxi Driver“ rückt, den er hier auch mehrmals offen zitiert. Und dann ist die Geschichte mit dem Porno-Ehepaar natürlich recht weit weg von der „normalen Welt“. Andererseits aber auch eine sehr bequeme Art, Ronnies Niedergang zu beschleunigen. Das wirkt dann etwas konstruiert, um die Geschichte zum gewünschten Ende zu bringen. Man muss allerdings auch zugeben, dass dies sehr gut funktioniert. Ich hätte mir hier nur einen etwas realistischeren, wenn auch für den Drehbuchautoren umständlicheren, Weg gewünscht.
Trotzdem: „Cuck“ war ein hervorragender Auftakt für die 26. Internationalen Filmfest Oldenburg. In der IMDb hat „Cuck“ derzeit übrigens eine Wertung von 2,8/10 – bei 47 10er Votes und 65 1er Votes. Wobei die vernichtenden Bewertungen fast ausschließlich von Männern stammt. Ich lasse das mal zur Interpretation offen…
Nach dem Film bestand bei mir erst einmal Redebedarf und daher hätte ich sehr gerne die Q&A mitgenommen. Doch mein nächster Film lief im Casablanca, so dass ich einen längeren Fußweg einkalkulieren musste, und durch die Verzögerung am Anfang war die Zeit knapp geworden. So verließ ich zähneknirschend direkt nach dem Abspann das Kino, um mit strammen Schritt Richtung Pferdemarkt zu marschieren. Die Eile war allerdings völlig unnötig, da sich hier das Spiel wiederholte. Wieder stand ich lange in der Schlange vor dem Einlass. Wieder ging es erst mit Verzögerung los.
The Steed – „The Steed“ war nur eine Notlösung, da der von mir präferierte Film „Lillian“ schon ausverkauft, und in dieser Zeitscheine sonst nichts interessantes zu finden war. Und die Aussicht einen mongolischen Film zu sehen, fand ich ebenfalls recht reizvoll.
„The Steed“ handelt von einem Jungen und seinem Pferd in der Mongolei zur Zeit des 1. Weltkrieges. Als seine geliebte Mutter stirbt, wird dem Jungen sein geliebtes Pferd, zu dem er eine ganz besondere Verbindung hat, von einem betrügerischen Schamanen gestohlen. Während sich der Junge auf den Weg macht, sein Pferd wiederzufinden, erlebt dieses verschiedene Abenteuer, bei denen es von Hand zu Hand gereicht wird und schließlich in Russland endet. Dort nutzt ein gefangenen Soldaten es zur Flucht. Danach macht es sich allein auf den Rückweg in die Heimat.
Heimat steht auch in dicken Buchstaben über diesem Film geschrieben. Immer wieder ist von der Heimaterde und die tiefe Verbindung der Menschen zu dieser die Rede. Oftmals in pathetischen Monologen. Daneben versucht der Film den Stil Hollywoods zu kopieren, indem alle dramatischen Szenen natürlich in Zeitlupe gefilmt werden und von einem bombastischen Score (der vom mongolischen Staatsorchester live eingespielt wurde) begleitet wird. Handlungsmäßig ist das alles altbekannt (die Geschichte des Pferdes erinnert etwa an Anthony Manns „Winchester 73“) und vor allem sehr vorhersehbar.
Der Pathos wird dick aufgetragen und alles wirkt glatt und harmlos (laut des Regisseurs wurde nur die „Kinderfassung“ gezeigt und es gibt wohl noch eine längere Fassung, die blutigere und gewagtere Szenen enthalten soll – schade, dass man diese nicht zu Gesicht bekam). Auf der Habenseite wurde der Film aber toll fotografiert und die mongolische Landschaft wird mit seinen unzähligen Pferde beeindruckend in Szene gesetzt. Und einen kleinen Einblick in mongolische Traditionen erhält man auch. Es bleibt nur nicht viel hängen und das Schielen nach Hollywood nervt etwas.
Danach konnte ich gleich im Casablanca bleiben. Durch den Seitenausgang wurden die Zuschauer nach draußen geführt, da sich vor der Tür zum Kino schon eine beträchtliche Zahl von Menschen eingefunden hatte. Leider wollten davon die wenigsten in „Patrick“, sondern in den parallel im großen Haus (wo ich in der tat noch nie war, wie mir später auffiel) laufenden „In Full Bloom“. Hier hieß es erst einmal warten, warten, warten. Aber irgendwann öffneten sich dann die Türen.
Patrick – Wenn die Ansagerin am Anfang erzählt, dass „Patrick“ eine der sehr wenigen lupenreinen Komödien im Programm sei und das Festivalteam sich bei der Sichtung vor Lachen gebogen hätte, dann macht das schon etwas Angst und wirft die Frage auf: Was für Menschen sind das und welches Humorverständnis haben die? In Ordnung, es gibt einige Szenen in „Patrick“, die zum Schmunzeln einladen (und die von einem leider recht kleinen Publikum dann auch dankbar mit lautem Kichern quittiert wurden), aber im Grunde seines Herzens ist der von Tim Mielants inszenierte „Patrick“ ein tieftrauriger, nachdenklicher Film über den Tod und die Unfähigkeit der Hauptfigur damit umzugehen.
Der fast 40-jährige Patrick (Kevin Janssens) arbeitet bei seinen Eltern auf deren Nudisten-Camp-Anlage. Als sein schwerkranker Vater verstirbt, scheint ihn dies nicht weiter zu berühren. Vielmehr ist Patrick davon besessen, seinen Lieblingshammer wiederzufinden, den jemand aus seiner Werkstatt gestohlen hat. Dieser Teil klingt im Programmheft nach Krimi, ist aber nur eine Metapher für die Unmöglichkeit, die Zeit zurück zu drehen, sich von den Menschen, die man verloren hat, zu verabschieden und ohne sie weiterzumachen.
Den ganzen Film durchweht eine leise Melancholie. Dass er in dem Nudistencamp spielt und deshalb alle nackt sind (und Patrick aufgrund seiner Frisur und seines stoischen, einfache Wesens irgendwie an eine Bjarne-Mädel-Figur erinnert), gibt dem Ganzen eine seltsame Stimmung, die auch mal ins Absurde kippt. Besonders wenn die nackten Menschen intrigieren und sich als ganz schlimme Spießer herausstellen.
Doch trotz vereinzelnder heiteren oder bizarren Szenen, verrät der Film niemals seine Figuren oder gibt sie vollends der Lächerlichkeit preis. Besonders Patrick wird mit viel Würde behandelt und sein tiefsitzender Schmerz ist körperlich fühlbar. Eine wunderbarer Film. Natürlich wieder aus Belgien. Ein Filmland, welches sich gerade in Oldenburg in den letzten Jahren zur sicheren Bank für ungewöhnliche und nachhallende Filme entwickelt hat.
Nach dem Film erwartete mich schon mein Weird-Xperience-Kollege Stefan, den ich an an diesem Tag mit nach Oldenburg genommen hatte ,und der in „In Full Bloom“ war. Gemeinsam gingen wir zurück zum Theaterhof . Beeilen mussten wir uns nicht, da noch etwas Zeit blieb und erfahrungsgemäß die 23:45 Uhr Vorstellungen im Theaterhof immer überschaubar viele Zuschauer haben.
Depraved – Eine moderne Frankenstein-Variante, welche Mary Shelleys Geschichte in das heutige New York verpflanzt, dabei aber überraschend treu gegenüber der Quelle bleibt. Der Frankenstein hier ist Henry, ein junger Arzt, der beim Militäreinsatz in Übersee einige tiefe Traumata erlitten hat und nun versucht, tote, verstümmelte Menschen wieder ins Leben zurückzubringen. Unterstützt wird er von dem zwielichtigen, zynischen Polidori (Anmerkung: John Polodori war ein englischer Schriftsteller und Arzt, der in der legendären Runde in der Villa Diodati dabei war, als Mary Shelly ihren „Frankenstein“ erschuf und er selber „The Vampyre“ beisteuerte), welcher allerdings mehr die finanziellen Möglichkeiten des Projekts im Auge hat.
Eine der Leichen, die auf mysteriöse Weise in Henrys Labor landen, ist der Student Alex, welcher in einem neuen, aus vielen Leichenteilen zusammengenähten Körper aufwacht, von Henry den Namen Adam erhält und erst einmal lernen muss, wieder ein Mensch zu sein. Ein schwerer, schmerzvoller Prozess, der außer Kontrolle gerät, als Polidori mit aller Gewalt seine Interessen durchsetzen will, und das Monster hinter das Geheimnis kommt, wie es in Henrys Labor landete.
Alex Breaux spielt das Monster mit viel Empathie und als Opfer, das gegen die Umstände versucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. David Call als Henry (Frankenstein) bleibt demgegenüber etwas blass, was auch seiner Rolle geschuldet ist. Immerhin schafft er es aber, dessen Enthusiasmus und Ehrgeiz gut zu vermitteln. Die heimliche Hauptrolle spielt natürlich Joshua Leonard als Polidori. Wobei man merkt, dass er dies nur allzu gut weiß, was seiner Darstellung etwas selbstverliebtes gibt.
Auch ist der Film mit fast zwei Stunden ein wenig lang geraten. Doch von diesen kleinen Makeln abgesehen, ist Regisseur Larry Fessenden eine sehr überzeugende Neu-Interpretation gelungen, die ihre Spannung bis ins blutige Finale halten kann und auch der Versuchung widersteht, seinen konsequenten Weg durch ein zuckriges Ende zu verwässern.
Damit endete mein erster Tag in beim 26. Internationalen Filmfest in Oldenburg und es ging über die pechschwarze Autobahn zurück nach Bremen.