Dieser Moment, auf den ich mich jedes Jahr freue. Wenn die ersten Filme für das Intentionale Filmfest Oldenburg bekannt geben werden. Wie immer habe ich mich sofort auf die Pressemitteilung gestürzt und im Kopf schon die ersten Pläne geschmiedet. Besonders freue ich mich schon auf „Jesus shows you the way to the Highway“, der sehr vielversprechend klingt. Auch „Cuck“ und „Mother’s Instinct“ belegen meiner persönlichen „Guck-Liste“ vordere Plätze. Aber auch „Magnetick Pathways“ und „In full bloom“ haben mein Interesse geweckt. „Tito“ klingt interessant, aber der Verweis auf den großartigen Klassiker „Ekel“ macht mich skeptisch. Warten wir es mal ab. Gänzlich uninteressant finde ich schon mal keinen der bisher vorgestellten Filme.
Wie im letzten Jahr übernehme hier mal die Texte aus der Pressemitteilung und versehe sie in kursiver Schrift mit meinen Anmerkungen.
CUCK, USA 2019, von Rob Lambert
In Lamberts Debütfilm wird die kollektive Wut der isolierten, entrechteten Einzelgänger, denen ein paranoides und zerrissenes Amerika der Trump Ära ihren Nährboden bereitet, durch den einfühlsamen Protagonisten Ronnie verkörpert (mit einer bemerkenswerten Leistung von Zachary Ray Sherman, der 20 Kilogramm für die Rolle eines frustrierten Arbeitslosen zunahm). In der Einöde von Van Nuys, unter dem Dach seiner besitzergreifenden Mutter (gespielt von der Oscar nominierte Sally Kirkland) lebend, sucht Ronnie einen Ausweg aus seiner anonymen Existenz – als rechtsextremer Blogger auf Youtube. Vom verlorenen Jungen zum einsamen Amokschützen – „Make America Great Again“ könnte nicht schwärzer und nicht aktueller sein. INTERNATIONALE PREMIERE – Klingt sehr spannend und das Thema des rechtsradikalen Amokläufer ist auch eins, welches im US-Film bisher nicht aufgegriffen wurde. Zumindest nicht aus der Perspektive des Täters. Ein wichtiges Thema.
Jesus shows you the way to the Highway, Estland/ Äthiopien 2019, von Miguel Llanso
Nach seinem gefeierten Debüt »Crumbs« (2015) legt Miguel Llanso erneut einen surrealer Mindfuck-Thriller vor, der von der Kritik als »Matrix on Acid« beschrieben wurde. Die Handlung: Die CIA-Ermittler Palmer und Gagano (mit Masken von Robert Redford und Richard Pryor getarnt) sind mit der Aufgabe betraut, einen gefährlichen Computervirus namens „Sowjetunion“ zu zerstören. Mittels Virtual Reality gelangen sie in das System – doch die Mission stellt sich als eine Falle heraus: Der Virus ist wesentlich komplexer als zuvor erwartet und steht in direkter Verbindung zu dunkelsten Sphäre der Macht. Ein verrückter, unerschrockener Cocktail aus B-Movie und surrealem Kino, ein ultimatives Vergnügen für Genießer des Absurden, das unerschrocken tradierten Genrekonventionen trotz und seinem Macher Kultstatus verleiht. DEUTSCHLANDPREMIERE – Das kann ganz großartiges, freidrehendes Anarchokino werden oder ganz großer, verkrampft gewollter Mist. Ich glaube dazwischen gibt es nicht viel. Ich bin optimistisch und habe den Film ganz oben auf meine Guck-Liste geschrieben.
Mothers‘ Instinct, Belgien 2018, von Oliver Masset-Depasse
Der Psychothriller ist eine Adaption des Romans »Derrière la haine« (Behind the Hatred) der belgischen Bestsellerautorin Barbara Abel. Alice und Céline leben in den 60er Jahren in einer heilen bürgerlichen Welt: Sie sind Nachbarn, beste Freundinnen und Mütter. Das ändert sich, als Celines Sohn Maxime aus dem Fenster seines Kinderzimmers stürzt und stirbt. Obwohl Alice, die das Geschehen beobachtete, Maxime nicht retten konnte, bringt diese Tragödie die Nachbarschaftsidylle komplett aus der Balance. Misstrauen und Neid bestimmen Celines Denken und blind vor Schmerz ist ihr Alices Sohn Theo von nun an ein Dorn im Auge. Wie einen guten Hitchcock Thriller entfaltet Olivier Masset-Depasse seine elegante, toxische Story. Inzwischen hat sich Hollywood die Remake-Rechte gesichert, indem sich niemand Geringeres als Jessica Chastain und Anne Hathaway dieses teuflische Duell zweier Freundinnen erneut liefern werden. DEUTSCHLANDPREMIERE – Belgische Filme haben mich in Oldenburg bisher nie enttäuscht. Im Original heißt der Film „Duelles“ und der Trailer verspricht eben dieses Duell zwischen zwei Frauen und eine Rachegeschichte. Sieht gut aus.
Magnetick Pathways, Portugal 2019, von Edgar Pêra
Edgar Pera ist der unbekannte Meister des portugiesischen Kinos. Mit »Magnetick Pathways« gelingt ihm ein großer Wurf des psychedelischen Kinos, in dem er den wunderbaren französischen Charakterdarsteller Dominique Pinon auf eine 24-stündige Reise durch eine entmenschlichte, autoritäre Welt schickt. Seine 21-jährige Tochter heiratet einen aalglatten, machthungrigen älteren Mann und nur er scheint hinter der sorglosen Jubelfassade das Unglück seiner Tochter vorherzusehen. Eine Tour de Force für Pinon und eine Inszenierung, die zwischen Avantgarde und großem Drama in atemberaubenden Bildkompositionen überwältigt. DEUTSCHLANDPREMIERE – Die artifiziellen Neon-Bilder aus dem Film sehen absolut toll aus und Dominique Pino sehe ich immer gerne. Dazu noch diverse Gewinne bei Festivals. Aber auch eine Durchschnittsbewertung von nur 4,0 in der IMDb. Mal schauen.
MOOP, USA 2019, von Arin Crumley
Die surreale, bewusstseinserweiternde Kulisse eines einwöchigen Kunstfestivals in der Wüste liefert den Background für Arin Crumleys zweiten Spielfilm. »MOOP« (Abkürzung für „Matters out of Place“) ist eine Explosion von Bildern und Ideen in einer atemberaubenden Wüstenlandschaft. Der Film vereint dokumentarisches mit Erzählung, das Authentische mit dem Absurden und kreiert ein einmaliges Erlebnis, das Fragen aufwirft: Was ist Liebe? Was ist real? Und wo zur Hölle ist das Dixiklo? Crumley hat 10 Jahre an diesem Film gearbeitet, mit dem er seine Zuschauer jetzt so authentisch wie noch nie zuvor in die Magie des „Burning Man“ Festivals eintauchen lässt. WELTPREMIERE – Hier ist es fast andersherum. 9,2 (!) in der IMDb, wieder tolle Bilder – aber die Geschichte (noch einmal die IMDB: „A hopeful romantic tries to hold onto a failing relationship with her playful but detached boyfriend. A sexually-repressed hitchhiker on a quest for enlightenment finds love in a broken dreamer“ spricht mich irgendwie überhaupt nicht an. Das kann in Verbindung mit der „surrealen, bewusstseinserweiternden Kulisse eines einwöchigen Kunstfestivals in der Wüste“ auch ziemlicher Selbstfindungs-Kitsch werden. Werde ich aufgrund der oben genannten Argumente aber trotzdem im Blick behalten.
Flucht durchs Höllental, Deutschland 2019, von Marcus O. Rosenmüller
Ein deutscher Abenteuerfilm, ein Bergdrama, ein atemloser Thriller. Hans Sigl spielt den Anwalt Berg, der unversehens in eine Geschichte rutscht, die Beruf und Privatleben gefährlich ineinander verquickt. Seine Tochter wird entführt, ein Klient taucht unter und ein geplantes Wochenende in den Bergen mit dem vernachlässigten Kind wird zu einer Verfolgungsjagd ins Höllental, bei der bald nicht mehr klar ist, wer auf der richtigen und wer auf der falschen Seite steht. Mit Marleen Lohse und Christian Redl bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt, kann Hans Sigl zeigen, dass er sich auch meilenweit von der heilen Welt seiner Paraderolle des Bergdoktors prächtig präsentieren kann. VORPREMIERE – Ein Thriller aus deutschen Landen und dann noch mit so einem schönen Groschenheft-Titel.. Da ist meine Neugierde geweckt. Allerdings ist das hier lediglich ein TV-Film und Regisseur Markus O. Rosenmüller ein TV-Veteran, der mir bisher noch nirgendwo groß aufgefallen ist. Höchstens als Co-Regisseur des im Giftschrank verschwundenen „Nick Knatterton“-Films.
Wir wären andere Menschen, Deutschland 2019, von Jan Bonny
Mit »Wintermärchen« hat Jan Bonny im vergangenen Jahr bewiesen, dass er einer der spannendsten deutschen Filmemacher ist. Sein Blick auf den Rand der Gesellschaft und seine innerlich zerrissenen Figuren machen Bonnys Kino ebenso unbequem wie faszinierend. Mit »Wir wären andere Menschen« erzählt er die Geschichte von Rupert Seidlein, der als 15-Jähriger mit ansehen musste, wie seine Eltern und sein bester Freund von zwei Polizisten erschossen wurden. Die Beamten erhielten einen Freispruch. 30 Jahre später kehrt er mit seiner Frau in seinen Heimatort zurück. Die Grenzen zwischen Erlösung, Versöhnung und der unstillbaren Sehnsucht nach Rache geraten ins Wanken. VORPREMIERE – Auch Jan Bonny kommt vom TV, hat dort aber einige Interessante Polizeirufe und einen Borowski-Tatort gedreht und macht jetzt bei der zweiten Staffel der Netflix-Serie „The Horror“ mit. Mal sehen. Die Geschichte klingt schon mal gut.
In full Bloom, USA 2019, von Adam Villasenor & Reza Ghassemi
Die Schauspieler Tyler Wood und Yusuke Ogasawara spielen in »In Full Bloom« zwei Männer in der politisch angespannten Nachkriegszeit auf einer Reise zu sich selbst. Wood charakterisiert Clint Sullivan, einen heruntergekommenen Boxer aus den USA, der in einem fragwürdigen Kampf gegen den japanischen Boxchampion (Ogasawara) antreten soll. Der Zuschauer folgt den beiden Männern auf ihrem eigenen, innerlichen Kampf: physisch, mental, emotional und spirituell. WELTPREMIERE – Mit Boxfilmen kann man nicht so viel falsch machen, auch wenn der Fokus hier laut Inhaltsangabe auf dem Seelenleben der Kontrahenten liegt. Wobei die IMDb den Film unter „Action, Crime“ listet. Da kann ich mir noch gar kein Bild machen. Die Filmstills sehen aber vielversprechend aus.
Cat Sticks, USA 2019, von Ronny Sen
In »Cat Sticks« verarbeitet Ronny Sen ein Thema, das während seines Aufwachsens in Kalkutta allgegenwärtig war: Er verlor Freunde und Bekannte an die süchtig machende Droge Brown Sugar. Die Schauspieler Tanmay Dhanania, Sumeet Thakur, Joyraj Bhattacharya verkörpern eine Gruppe von Drogenabhängigen, die in einer regnerischen Nacht in Kalkutta auf der Suche nach dem permanenten Rausch sind. »Cat Sticks« feierte seine Premiere im Januar 2019 auf dem Slamdance Film Festival. EUROPAPREMIERE – Filme, die um Drogenabhängigkeit kreisen, sind nicht ganz so meins. Von der Inhaltsangabe her erwarte hier auch definitiv keinen fröhlichen, sondern eher einen zutiefst deprimierenden Film. Im schlimmsten Falle Armuts-Pornographie. ABER.. der Trailer sieht toll aus! Darum kommt der mit auf die Liste.
Tito, Kanada 2019, von Grace Glowicki
Die beim Sundance Festival mit einem Jurypreis ausgezeichnete kanadische Darstellerin Grace Glawocki spielt in ihrem Regiedebüt »Tito« einen jungen, verängstigten Mann, dessen Angstvisionen ihm ein normales Leben komplett verbauen. Wie einst Catherine Deneuve in Polanskis »Ekel« kann Tito nicht aus seiner selbst erbauten Falle ausbrechen, er ist wie gelähmt vor Angst, sobald er sich aus seinen vier Wänden herausbegibt. Als Titos Nachbar wie ein unerwünschter Eindringling in sein Leben tritt, kommt so etwas wie Hoffnung auf normale soziale Beziehungen auf. Aber der Weg zurück ins Leben ist steinig. Glawocki erzählt mit viel Rafinesse eine Geschichte um sexuelle Gewalt und Traumata und die Entscheidung, ihre Hauptfigur zu einem Mann zu machen, erweist sich als ebenso kühner wie kluger Schachzug. INTERNATIONALE PREMIERE – Bin zwiegespalten. Das klingt soweit ganz gut, aber kann auch schnell in üble Coming-Out-Klischés und selbstverliebter Nabelschau enden. Zudem bin ich immer vorsichtig, wenn ein Film mit einem meiner Lieblingsklassiker verglichen wird. Das geht meistens nach hinten los.