Kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs macht sich der 11-jährige Chico (Daniel Roth) auf die Suche nach seinem verschwundenen Großvater. Dieser Franz Xaver Stannebein (Jörg Gudzuhn) ist von Kindesbeinen an von Flugmaschinen und dem Fliegen besessen. Er hat eine Konstruktion entwickelt, die wie eine fliegende Windmühle funktionieren und die Menschen kollektiv in die Luft erheben soll. Da er in Deutschland nicht die Mittel dazu findet, wandert er nach Spanien aus, wo er eine Familie gründet und Generaldirektor einer erfolgreichen Firma wird. Doch der Traum von seinem Luftschiff lässt ihn nicht los. Als er glaubt in Deutschland das Geld für den Bau auftreiben zu können, verlässt er von einer Minute zur anderen seine vielköpfige Familie und geht nach Berlin. Hier gelingt es ihm tatsächlich in einflussreichen Kreisen Unterstützung für seine Ideen zu bekommen. Mit dem Auftrag zunächst eine Startbahn für seine Luftschiffproduktion zu bauen, kehrt er nach Spanien zurück. Doch bald schon muss er erkennen, dass er betrogen wurde…
Der DDR-Film ist für viele eine terra incognita. Zwar ist auch der bundesdeutsche Film – abseits der großen Namen wie Fassbinder, Wenders und Herzog – recht schlecht erschlossen (Klaus Lemkes Filme aus den 70ern sind beispielsweise bis auf „Rocker“ und „Paul“ nicht existent), doch um den DDR-Film sieht es in der Regel wirklich traurig aus. Umso schöner, wenn sich ein Label wie die edition filmmuseum eines dieser „unsichtbaren“ Werke annimmt und noch schöner, wenn dieses Werk dem Vorurteil, beim DDR-Film hätte es sich samt und sonders um heute völlig überholten, systemerhaltenden, sozial-realistischen Streifen handeln. „Das Luftschiff“ ist ein ungewöhnliches, vielschichtiges, manchmal surreales Werk, welches man mit solchen Vorurteilen im Hinterkopf so vielleicht nicht erwartet hätte. Andererseits, wenn man noch etwas weiter östlicher schaut, nach Polen, weiß man, dass auch im Sozialismus wilde und waghalsige Filme möglichen waren, auch wenn man wissen sollte, dass diese oftmals große Schwierigkeiten mit den Zensoren hatten. An dieser Stelle seien nur die Werke eines Andrzej Żuławski oder Jerzy Skolimowski erwähnt. Aber auch Andrzej Wajda fand oftmals ungewöhnliche Formen für seine Geschichten.
„Das Luftschiff“ wird häufig als „experimentell“ beschrieben. Was für die damalige Zeit sicherlich in Teilen zutreffend war. Die Handlung springt durch Zeiten und Orte, ohne dies besonders kenntlich zu machen. Der Film- und Performancekünstler Lutz Dammbeck ritzte Animationen direkt in die Filmbeschichtung des Negativs, um die Träume und Pläne des Franz Xaver Stannebein zu illustrieren. Und der Avantgardist Friedrich Goldmann schrieb die ungewöhnliche Musik. Heute kennt man diese Stilmittel und „Das Luftschiff“ wirkt vielleicht nicht mehr so revolutionär wie 1983, aber es entwickelt noch heute einen unwiderstehlichen Sog und Faszination. Außerordentlich gelungen ist die Montage zwischen dem Leben des Großvaters und der Suche des Enkels nach diesem. Was gleichzeitig eine wunderschöne Coming-of-Age-Geschichte ist, wenn sich Chico allein auf die Suche macht und im zerstörten Nachkriegs-Deutschland seltsame Gestalten trifft und kleine Abenteuer erlebt. Insbesondere die Szene in der er auf einer Draisine die Bahngleise entlang saust bleibt im Gedächtnis. Dabei führt Chico fast schwerelos und glücklich des Großvaters Traum vom Fliegen fort, um dann ähnlich hart in der Realität zu landen. Dabei versagt sich Simon aber jeglicher Sentimentalität und lässt Chico und den Zuschauer am Ende mit der Erkenntnis zurück, dass Träume nicht Erfüllung gehen, nur weil man es sich so sehr wünscht. Wohl aber, dass sie einem helfen, dem Leben entlang des Weges einen Sinn zu geben.
Man kann „Das Luftschiff“ auch als Gleichnis lesen. Die Konstruktionen des Franz Xaver Stannebein wird von ihm selber als Wunsch nach einer Freiheit für alle formuliert. Die bewahrheitet sich zwar nicht (wie auch im Sozialismus die Freiheit nur relativ war), wohl aber lässt dieser Wunsch nach einem Ideal den Träumer auch unter den widrigsten Umständen immer weitermachen. Dieses sozialistische Ideal – Freiheit und Gleichheit für alle Menschen – wird im Film, wie im realsozialistischen Leben – von den Mächtigen ausgebeutet und pervertiert, indem sie die Träumer für ihre eigenen egoistischen, dem propagierten Ideal zuwiderlaufenden Plänen einspannen und ausnützen. Kennt man die Geschichte von Fritz Rudolf Fries, dem Autoren der Vorlage, welcher diese auch für die filmische Umsetzung frei adaptierte, da kann man in den Film sogar ein vorweggenommenes Outing als IM hineinlesen. Schließlich wird die Hauptfigur (die wie Fries lange Zeit in Spanien lebt) von einem System missbraucht, welches seine Träume ausnutzt, um ihn zu einem Teil des Systems zu machen und letztendlich dazu bringt, dass er unbewusst seine Ideale (er will auf gar keinen Fall, dass seine Konstruktionen für militärische Zwecke eingesetzt werden, sie sollen nur dem Wohl der Menschheit dienen) verrät, indem er der deutschen Legion Condor einen Landebahn baut, somit die Faschisten in Spanien unterstützt und Leid über die Bevölkerung bringt. Vielleicht fühlte sich Fries ja ganz ähnlich.
In Jörg Gudzuhn fand Rainer Simon einen kongenialen Hauptdarsteller, der an eine Mischung aus Hark Bohm und Max von Sydow erinnert. Kleinbürgerliches trifft intellektuelles Draufgängertum. Gudzuhn nimmt man jederzeit sowohl den Träumer mit den utopischen Visionen ab, als auch den Fanatiker, der seine Ideen rücksichtslos gegen sich und andere durchsetzen will. Oftmals in derselben Einstellung. Hinter seinem verträumten Blick lauert auch immer das Zwanghafte. Ebenfalls eine Offenbarung ist der junge Daniel Roth in der Rolle des Chico, der in einer chaotischen, unsicheren Welt Halt darin findet, seinen Großvater zu einer Art Übermensch zu stilisieren, der wie ein Prophet die Menschheit in eine besser Zukunft führen könnte. Sein Spiel ist so natürlich, leicht und offen für Wunder, dass es schade ist, dass man ihn danach nur noch einmal in dem ebenfalls von Simon gedrehten „Die Frau und der Fremde“ sehen konnte.
Wie immer ist die Filmpräsentation durch die edition filmmuseum sehr gut kuratiert. Als Extra gibt es ein sehr erhellendes Interview mit Regisseur Rainer Simon und im 16-seitigen Booklet mehrere weiterführende Texte zu diesem Film und dem zweiten Film dieser Doppel-DVD. Das Bild ist unrestrauriert, aber sehr solide und nur ab und zu sieht man etwas Filmschmutz, was aber nicht stört. Mir ist solch authentischer „Filmlook“ sowieso sehr viel lieber, als kalte Glattfilterung. Die Farben sind gut und stabil. Der Ton (Dolby Digital Mono) klar und sehr gut verständlich. Der zweite Film dieser Doppel-DVD ist der Dokumentar-/Propagandafilm „Unbändiges Spanien“ von Kurt und Jeanne Stern, welcher eine Bearbeitung und Erweiterung des Filmklassikers „The Spanish Earth“ von Joris Ivens (1937) darstellt. Als Sprecher wirkt darin so bekannte DDR-Schauspieler wie Norbert Christian, Mathilde Danegger, Manfred Krug, Ekkehard Schall und Hilmar Thate mit, die neue Musik stammt von Hanns Eisler. Eine sehr gute und in Hinblick auf die Verbindung DDR/Spanien durch „Das Luftschiff“ logische Ergänzung.