Blu-ray-Rezension: „Marketa Lazarova“

Vater Kozlík (Josef Kemr) sendet seine Söhne Mikolás (František Velecký) und den einarmigen Adam (Ivan Palúch) aus, um Reisende auszurauben. Eines Tages stoßen sie dabei auf eine Gruppe Deutscher. Sie töten fast alle, aber ein Mann kann entkommen. Mikolás nimmt dessen Sohn (Vlastimil Harapes) und einen Diener als Geisel. Es stellt sich aber heraus, dass der Geflüchtete ein sächsischer Adeliger war, der zum Bischof von Hennau gemacht werden sollte und ein sehr enger Verbündeter des Königs ist. Dieser bestellt Kozlík an seinen Hof, wo Kozlík gefangengenommen werden soll. Es gelingt ihm allerdings – verfolgt von den Soldaten des Königs unter Hauptmann Pivo (Zdenek Kryzánek)- zu fliehen. Um sich gegen Pivos Truppe wehren zu können, schickt Kozlík seinen Sohn Mikolás zu seinem Nachbarn Lazar (Michal Kozuch), um diesen zu zwingen, gemeinsam mit ihm gegen Pivo zu kämpfen. Als Lazar sich weigert, entführt und vergewaltigt Mikolás dessen Lazars Tochter Marketa (Magda Vásáryová), die gerade einem Kloster beitreten wollte…

Wenn die Blu-ray von „Marketa Lazarova“ nach 165 Minuten zu Ende ist, fühlt man sich erschlagen, erschöpft, glücklich und zugleich traurig. Traurig, weil man diesen mächtigen Bilderhammer nicht auf der großen Leinwand gesehen hat, wo er sicherlich noch einmal eine ganz andere faszinierende Sogwirkung als auf dem Fernseher Zuhause entwickelt. Selbst wenn die vom tschechischen Filminstitut durchgeführte Restaurierung – welche die Grundlage der Bildstörung-Blu-ray bildet – überaus gelungen ist. Aber ein visuell – und auch auditiv – derartig überwältigender Film gehört nun einmal auf die ganz große Leinwand. 1967 in die Kinos gekommen, nach 548 Drehtage und eine Verdoppelung der veranschlagten Produktionskosten, erscheint „Market Lazarova“ seiner Zeit weit, weit voraus. Nur vergleichbar mit Andrej Tarkowskis nahezu zeitgleich entstanden „Andrej Rubljow“ und dem ebenfalls kürzlich von Bildstörung veröffentlichten „Es ist schwer ein Gott zu sein“ von Aleksey German aus dem Jahre 2013. Der studierte Kunsthistoriker Frantisek Vlácil hat mit „Marketa Lazarova“ ein ebenso brutal-authentisches, wie poetisch-surreales Mittelalter erschaffen, in dem seine Geschichte um zwei verfeindete Clans und die Rache des Königs ebenso zielsicher, aber eben auch schwankend auf einer dünnen Linie zwischen ungeschönten, hässlichen Realismus und traumhafter Magie, Grausamkeit und Zärtlichkeit, Dreck und strahlender Schönheit, heidnischen Ritualen und einem rigiden Christentum balanciert.

Auf ihr Skelett heruntergedampft, ist die Geschichte von „Marketa Lazarova“ relativ simpel zu verstehen. Doch Frantisek Vlácil nutzt sie für eine Meditation über das Erzählen von Geschichten und für die Rekonstruktion einer uns so fremden Zeit, aus der es kaum Überlieferungen gibt. Vlácil erschafft sein ganz eigenes 13. Jahrhundert, in welchem sich der Zuschauer ebenso fremd fühlt, wie auf einem ferneren Planeten – und doch zugleich auch irgendwie vertraut. Im geht es da ähnlich dem Protagonisten aus Aleksey Germans „Es ist schwer ein Gott zu sein“. Gleichzeitig löst Vlácil die Einheit von Raum und Zeit, Realität und Vorstellung auf. Man sieht Szenen, deren Bedeutung erst sehr viel später aufgelöst werden. Von denen man nicht weiß, wann und wo sie stattfinden. Ist es eine Erinnerung? Passiert es jetzt? Oder ist es ein Vorgriff auf das, was noch passieren wird? An einigen Stellen lässt Vlácil wichtige Teile der Geschichte einfach weg und lässt sie erst viel später von einer Figur nacherzählen. Oder er illustriert Gedanke und Geschichten so, als würden sie genau jetzt tatsächlich geschehen. Der alte Lazar spricht zu dem jungen Mikolás über seine Tochter Marketa (die wir bis dahin noch nicht gesehen haben). Davon, wie rein sie ist, und dass er sie den Nonnen versprochen hat. Gleichzeitig bebildert Vlácil dies mit einer Gruppe schwarzgekleideter Nonnen, die sich einen Hügel hinauf schlängeln, jede eine weiße Taube in der Hand – und der jungen Marketa, die eine dieser Tauben vor ihrer halb entblößten Brust hält. Dann ist diese Vision auch wieder vorbei. War sie eine Erinnerung Lazars? Oder sahen wir die Bilder, die dessen Worte in Mikolás Kopf hervorgerufen haben. Immer wieder kommt es zu solchen Szenen. Frantisek Vlácil agiert selber wie der alter Erzähler, dessen Stimme am Anfang verkündet, es sei nun besser, am Feuer zu sitzen und sich an Geschichten von früher zu erinnern. Und so erzählt Vlácil die Ballade (oder Rhapsodie, wie der Vorspann ankündigt) von Marekta Lazarova dann auch. Hier vergisst er etwas, dort holt er etwas vor, was ihm gerade in den Kopf gekommen ist, dort fügt er etwas an, was er zuvor zu erwähnen vergessen hatte. Und immer wieder vermischt sich die Erzählung mit dem, was der Erzähler falsch erinnert, dazu dichtet oder bewusst mythisch auflädt.

Dieses „Erzählen“ wird auch in der Tonspur hervorgehoben. Die Dialoge sind mit einem unnatürlich Hall versehen. Dies erinnert an Dokumentarfilme, die stumm aufgenommen wurden, und dann der omnipräsente, gottgleiche Erzähler die somit unhörbaren Dialoge wiedergibt. Auch hier hat man den Eindruck, die Sätze würde von jemand anderen nachgesprochen, nicht den handelnden Personen deren Bilder man über die Jahrhunderte hinweg sieht. Einmal greift der Erzähler sogar ins Geschehen ein und hält Zwiesprache mit dem Bettelmönch, der wie der Zuschauer mit großen Augen durch diese Welt voller Versehrter, Gewalt und Grausamkeit taumelt. An wen sonst, sollte sich der Allwissende, der dort aus seiner himmlischen Position heraus das Treiben beobachtet, auch sonst wenden?

Die Figur des Mönches nimmt eine Stellvertreterrolle für den Zuschauer ein. In seiner passive Position des Beobachters wird er wie dieser von den Ereignissen überrollt und in eine Welt hineingezogen, die nicht die seine ist. Doch der Mönch ist gleichzeitig eine ebenso fremdartige, ja primitive – sich der Moral der modernen Zeiten verweigernde Figur, wie das restliche Personal dieses Films. Sei es der einarmige Adam, der eine inzestuöse Beziehung mit seiner Schwester hatte. Oder eben jene Schwester, die sich heidnischen Ritualen hingibt. Oder Nebenfiguren wie der Geistliche aus Deutschland, der nur Hass und Vernichtung kennt. Und unser gutherziger, naiver Mönch? Der wiederum pflegt eine intensive Beziehung mit einem Schaf, die weit über das hinausgeht, was gesellschaftlich akzeptabel ist. Auch Marketa selber ist keine gänzlich reine, engelsgleiche Figur. Als sie von Mikolás einführt und vergewaltigt wird, verliebt sie sich in ihren Peiniger und geht freiwillig ein Abhängigkeitsverhältnis mit ihm ein. Gespiegelt wird dies in dem Verhältnis des jungen deutschen Adeligen (der eigentlich zum Bischof gemacht werden sollte). Auch dieser wird vom Clan der Kozlík entführt und verliebt sich seinerseits in die starke, unabhängige Heidin Alexandra. In diesem Film strebt jeder entweder nach Macht über die anderen oder unterwirft sich sexuell und gefühlsmäßig dem Stärkeren. In dieser Welt benehmen sich die Menschen wie die Wölfe, die in „Marketa Lazarova“ allgegenwärtig durch die Landschaft streifen.

Die Ungewöhnlichkeit mit der Frantisek Vlácil seine Geschichte erzählt, schlägt sich auch in der Kameraarbeit und dem Sounddesign nieder. Man mag kaum glauben, dass der Film Mitte der 60er Jahre entstand und er muss teilweise wie ein Schock auf das damalige Kinopublikum gewirkt haben. Mal schwebt die Kamera (geführt von Bedrich Batka) über den Geschehen und fängt die landschaftlichen Panoramen in atemberaubenden Gemälden ein, dann folgt die Handkamera ganz nah den Figuren, klebt förmlich an ihnen und ihren Gesichtern. Ein anderes Mal nimmt sie ganz den Blick eines der Handelnden ein, und der Zuschauer reist in dessen Kopf durch das 13. Jahrhundert. Hier überirdisch schöne Bilder, elegante Kamerafahrten – dort hässlicher Realismus voller Dreck und Blut. Gleichzeitig sorgt die mit Chören und elektronischen Klängen durchsetzter Filmmusik von Zdenek Liska gemeinsam mit dem grandiosen Sounddesign dafür, dass der Zuschauer einerseits mitgerissen, ihm dann aber auch immer wieder der Boden unter den Füssen weggezogen wird. So entsteht eine permanent (alb)traumhafte Atmosphäre. Nicht zu vergessen, die detailreichen, authentischen Kulissen und die Kostüme, auf die Vlácil seine höchste Aufmerksamkeit legte. Intensiv setzte sich Vlácil im Vorfeld mit dem Leben im Mittelalter auseinander, dem Waffengebrauch und dem Alltagsleben. Er ging sogar soweit, mit Cast und Crew für zwei Jahre in den Böhmerwald zu ziehen, und während dieser Zeit selbst zu leben wie im 13. Jahrhundert. Der hohe Aufwand hat sich gelohnt. „Marketa Lazarova“ wurde völlig zurecht zweimal (1994 und 1998) von tschechischen Journalisten und Filmkritikern zum besten tschechoslowakischen Film aller Zeiten gewählt.

Dank des vorzüglichen Filmlabels „Bildstörung“, welches mit Fug und Recht als deutsche Antwort auf das amerikanische Criterion oder das englische Masters of Cinema bezeichnet werden kann, hat Frantisek Vlácils Meisterwerk „Marketa Lazarova“ nicht nur nach 50 Jahren endlich einen deutschen Kinostart verschafft, sondern auch in einer wieder einmal vorbildlichen Blu-ray-Edition veröffentlicht, welche keine Wünsche offen lässt und das cinephile Herz höher schlagen lässt. Das vom tschechischen Filmarchiv brillant restauriert Bild der Blu-ray ist ein Fest für die Augen. Der Ton (tschechisch mit ausblendbaren deutschen Untertiteln) zunächst gewöhnungsbedürftig, aber dies war – wie oben beschrieben – auch die Intention des Filmemachers. Auf einer weiteren Tonspur befindet sich ein filmbegleitendes Gespräch mit Olaf Möller. Der Edition liegt noch eine DVD bei, auf der sich reichhaltiges und interessantes Bonus-Material befindet. „Der schicksalhafte Rausch des František Vlácil“ von 2003 ist ein 50minütiges Portrait über den 1999 verstorbenen Regisseur, welches für das tschechische Fernsehen produziert wurde. Für jenes wurde auch 1995 das viertelstündige „Das Leben des František Vlácil“ und das 20-minütige „Im Netz der Zeit“ produziert. In beiden Featurettes kommt Vlácil selber ausführlich zu Wort. Man lernt in diesen drei Dokumentationen viel über den nicht immer einfachen František Vlácil und die Entstehung seines berühmtesten Werkes „Marketa Lazarova“. Vor allem machen die hier zu sehenden Ausschnitte aus seinen weiteren Filmen eine unbändige Lust drauf, sich weiter mit dem Werk dieses hierzulande viel zu unbekannten Filmemachers zu beschäftigen, und sich auf die Suche nach Filmen wie „Die weiße Taube“ oder „Valley of the Bees“ zu machen. Des weiteren findet man auf der Bonus-DVD noch Interviews mit der Filmjournalistin Zdena Škapová (14 Min.), dem Kunsthistoriker Jan Royt (12 Min.) und dem Restaurationsleiter Ivo Marák (9 Min.). Eine Storyboard-Galerie und das unbedingt lesenswerte 24-seitiges Booklet mit einem Text von Marc Vetter („Marketa Lazarová oder die Zeit der Wölfe“), welcher sich mit der Vorlage, den Produktionsbedingungen und František Vlácil beschäftigt, runden diese schöne Veröffentlichung ab. Bitte noch viel mehr davon!

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