Das frisch vermählte Paar Stefan (John Karlen) und Valerie (Danielle Ouimet) fährt nach Ostende, um von dort aus mit der Fähre nach England überzusetzen. Als sie die Fähre verpassen, verbringen sie die Nacht in einem menschenleeren Hotel. Dort treffen auch bald die rätselhafte Gräfin Elisabeth Bathory (Delphine Seyrig) und ihre Begleiterin Ilona (Andrea Rau) ein. Die beiden entwickeln ein großes Interesse an dem jungen Ehepaar. Stefan und Valerie beschliessen, noch ein paar Tage länger in Ostende zu bleiben und das naheliegende Brügge zu besuchen. Dort erfahren sie von einer Reihe mysteriöser Morde an jungen Frauen, die die Stadt in Atem hält. Waren nicht auch gerade die Gräfin und ihre Begleiterin in Brügge?
Es fällt irgendwie sehr viel schwerer, einen Film wie „Blut an den Lippen“ zu besprechen, der mir schon seit langer Zeit sehr am Herzen liegt, als einfach nur die frischen – positiven oder negativen – Eindrücke nach einer Erstsichtung niederzuschreiben. Darum verabschiede ich mich hier mal von meinen sonstigen Review-Mustern und schreibe diesmal darüber, wie mich dieser Film bisher begleitet hat. Das erste Mal sah ich ihn im Fernsehen. Dort lief er irgendwann Ende der 90er. Ich glaube es war spät nachts in der ARD, aber das kann ich nicht mehr genau sagen. Irgendwo habe ich aber noch die Aufzeichnung. Mich wunderte damals, dass „so ein Film“ im TV gezeigt wird. Denn ich hatte eine recht abenteuerliche Vorstellung davon, was mich bei diesem Film erwarten würde. Das, was ich dann letztendlich sah, war bei weitem nicht so wild, wie meine Erwartung. Ich glaubte bis dahin immer, dass der Film mehr in die Kerbe haute, die die Hammer-Studios beinahe zeitgleich mit ihrer Karnstein-Trilogie schlugen. Nur mit noch mehr Sex und Gewalt. Also nicht unbedingt der Stoff, den man Ende des Jahrtausends im TV erwartet hätte, denn damals war die Zeit, in der die Privaten mit dem Schulmädchen und reitenden Leichen Quote machten, schon lange vorbei.
Der Film begann dann auch „vielversprechend“. Eine Frau wurde aufgespießt und vor einem brennenden Autowrack hielt die Kamera die Gepfählte malerisch im Bild. Dazu eine Stimme, die von Vampiren und Wiedergeburt erzählte. Danach schaltete der Film einige Gänge runter und weigerte sich beharrlich, die oberflächlichen Schocks und Schrecken zu liefern, denen ich entgegenfieberte. So war ich dann am Ende auch erst einmal enttäuscht. Aber auch merkwürdig fasziniert. Zwar hatte ich nicht das bekommen, was ich mir gewünscht hatte, aber ich wurde mit etwas anderem belohnt. Etwas, was seinen Weg in meine Fantasie und in mein Herz gefunden hatte. Etwas merkwürdig Süß-Bitteres. Obwohl ich den Film zunächst als „langweilig“ abtat, tauchten einzelne Bilder immer wieder aus meinem Unterbewusstsein auf. Die zeitlos schöne, mysteriöse Gräfin, die aus einer fernen Epoche gefallen schien. Ebenso, wie das menschenleere Hotel, welches sie mit ihrer ergebenen Gespielin bewohnte. Ein Platz außerhalb der Zeit, in dessen elegantem Salon die Gräfin Bathory wie ein Spinne sitzt und darauf wartet, dass sich wieder jemand in ihrem Netz verfängt. Oder doch eher wie eine Venusfalle, die mit süßem Duft ihre Opfer anlockt.
Und natürlich ist da auch Andrea Rau. Begehrenswert, devot, geheimnisvoll. Purer Sex, aber von einer solch melancholischen Ausstrahlung, dass es einen hoffnungslos verwirrt. Man weiß, mit ihr kann etwas nicht stimmen. Aber trotzdem übermannt einen eine übermächtige Lust, wenn man sie sieht. Man würde sich jederzeit in das gefährliche Spiel mit ihr stürzen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Auch wenn man tief im Inneren nur zu genau weiß, dass man dafür teuer bezahlen müsste. Delphine Seyrig und Andrea Rau. Herrin und Zofe. Zwei Seiten der Erotik, die einen beide verrückt machen. So ist es nur folgerichtig, wenn sich das scheinbar naive Paar Stefan und Valerie in diesem verlockenden Netz verfängt und sich die Fesseln der Begierde umso enger zuschnüren, je mehr sie sich dagegen wehren.
In der Fassung, die ich damals im TV sah, fand ich die Beiden eher fade. Erst später, als ich den Film in der Originalfassung sah, gewann Stefan eine zusätzliche Tiefe. Wurden hier doch einige seiner Handlungen begreifbarer und verliehen dem Film eine zusätzliche Schicht. Denn erst als ich mir die US-DVD von Blue Underground zulegte (mit dem englischen Titel des Filmes: „Daughters of Darkness“), konnte ich die Szenen sehen, in denen sich herausstellte, dass Stefan beileibe kein mutloses Muttersöhnchen war, sondern seine „Mutter“ ein älterer Mann ist, der in einem ähnlich morbid-dekadenten Reich lebte, wie es auch die Gräfin um sich herum geschaffen hatte. Auch dieser bleiche, überschminkte Mann wirkt wie ein Vampir. Jemand, der seine Lebenskraft durch das Auslutschen eines Schwächeren erlangt. Dies erklärt einerseits Stefans devote Faszination für die Gräfin, und gleichzeitig sein verzweifeltes Bemühen, ebenfalls Autorität über Schwächere auszuüben. Das andere Ende der Peitsche zu halten, wie er es in der Szene tut, in der er scheinbar grundlos mit seinem Gürtel auf Valerie einprügelt. Seine Schwäche, sich weder in seine Rolle fügen zu können, noch aus ihr auszubrechen, beschwört seinen Untergang herauf.
Und über allen thront die maliziöse Bathory. Wer sonst als Delphine Seyrig mit ihrer überirdischen Schönheit, ihrer Eleganz, ihrer hintergründigen Erotik, könnte diese Rolle spielen? Auf der gerade erschienenen DVD von Bildstörung findet sich zum Anfang eine Texttafel, die es dem Zuschauer nahelegt, den Film, der komplett auf Englisch gedreht wurde, in der Originalfassung zu schauen. Die deutsche Synchronisation könne die erotisch-gefährlich Stimme der Seyrig einfach nicht wiedergeben. Ein guter und hilfreicher Hinweis. Denn ihre Stimme gehört zu der Gräfin, ebenso wie die wunderbaren Kostüme, die einen in eine andere Welt entführen. Eine Welt der schwülen Dekadenz und Pracht.
Obwohl ich also von meiner ersten Begegnung mit „Blut an den Lippen“ nicht unbedingt hin und weg war, hatte sich die Saat des Filmes in meinem Herzen eingepflanzt. So sollte es nicht verwundern, dass ich mir also sofort die US-DVD von „Blue Underground“ kaufte, als diese 2003 veröffentlicht wurde. Wieder ließ ich mich in das winterliche, von den Menschen im Stich gelassene Ostende entführen. Wieder sah ich der Gräfin und ihrer Dienerin Ilona dabei zu, wie sie Stefan und Valerie in das kranke Herz dieses Ortes lockten. Und diesmal machte es bei mir „klick“. Der Film umgarnte mich, streichelte mich mit seiner Schönheit und zeigte mir seine funkelnden Juwelen. Auf meinem alten Röhrenfernseher machte die DVD noch einen recht guten Eindruck, aber als ich viele Jahre später Screenshots anfertigte, merkte ich, dass die gebotene Qualität doch eher schwach war.
Die Screenshots fertigte ich an, als ich gerade von einem Urlaub aus Belgien zurück kam. Dort hatte ich Ostende besucht und war von der morbiden Stimmung dieses ehemals so prächtigen Seebades gefangen genommen worden. Trotz des relativ guten Wetters und der vielen Touristen, spürte man doch an jeder Ecke diese Atmosphäre des Verfalls, die Harry Kümel in seinem Film perfekt genutzt hat. Ostende ist eine kränkelnde Stadt. Seine einstmalige Pracht ist unter riesigen Betonburgen begraben, die den Strand säumen und die Stadt in einen grabeskalten Schatten tauchen. Ostende ist hässlich und heruntergekommen, aber man fühlt überall auch noch den Geist des einst prunkvollen Seebades, ahnt die eleganten Cafes und teuren Art-Deco-Hotels. Der Hauch der dekadenten 20er weht durch die baufälligen Betonburgen. Hält man sich in Ostende auf, befindet man sich in der gleichen eigenartigen Stimmung, wie sie „Blut an den Lippen“ verströmt. Natürlich habe ich es mir nicht nehmen lassen, das berühmte Hotel de Therme zu fotografieren und möglichst aus dem Kopf heraus die Kamerawinkel aus dem Film zu finden. Ich bin auch durch das Hotel selber gelaufen, in der Hoffnung den Salon oder die markante Treppe aus dem Film zu finden. Leider hatte ich mich vorher nicht richtig informiert. Die Innenaufnahmen des Foyers, des Salons und der Treppe fanden alle in einem anderen Hotel, dem Astoria, statt. Sollte ich eines Tages nach Ostende zurückkehren, dann werde ich diese Orte auf jeden Fall aufsuchen.
Kurz nachdem ich aus dem Urlaub zurückgekehrt war, kündigte Bildstörung „Blut an den Lippen“ als nächste Veröffentlichung an. Zufall? Schicksal? Wie dem auch sei, diese Veröffentlichung dürfte einen Standard setzen, der weltweit nicht so leicht zu übertreffen sein wird. Das Bild ist gestochen scharf und die HD-Restauration von Harry Kümel persönlich überwacht worden. An einigen Stellen wurde es mit den technischen Hilfsmitteln vielleicht etwas übertrieben und das Bild wirkt in etwa so, als ob man aus einer ungünstigen Position auf ein LCD schaut. Aber dies betrifft eigentlich nur die erste Szene im Zug, zwischen Stefan und Valerie. Der Rest erstrahlt in bisher nie da gewesenem Glanz. Kümel selbst erzählt in einem auf der Bonus-DVD enthaltenen Interview, dass der Film nun endlich in etwa so aussähe, wie er es sich gewünscht hatte, und dass er bereits Anweisung geben hat, nur noch diese digital restaurierte Fassung zu nutzen, falls der Film noch einmal irgendwo im Kino gezeigt werden sollte.
Überhaupt scheint Kümel seinen Frieden mit dem „ungewollten“ Film gemacht zu haben. In einem Interview, welches 2003 in dem englischsprachigen Buch „Flesh & Blood Compendium“ erschien, erzählte Kümel bereits davon, dass er den Film eigentlich nicht machen wollte und alles tat, um die Produktion bereits im Vorfeld zu torpedieren. Schon damals faszinierte mich, dass Kümel aus einem Film, den er eigentlich nie drehen wollte und den er vor allem aufgrund seiner Darsteller für misslungen hielt („The cast was partially a disaster“ „Well, not partially, make that completely“)*, so ein Meisterwerk zustande gebracht hat. Voller kleiner Details, die einem erst beim zweiten oder dritten Mal so richtig auffallen, die aber den Film mit jedem Sehen noch mehr wachsen lassen. Kokettierte Kümel lange Zeit damit, weil er wusste, dass er hier etwas Großes geschaffen hatte? Fishing for compliments? Ich weiß es nicht. In „Flesh&Blood“ klang es so, als ob Kümel den Film und die meisten der daran Beteiligten gehasst hätte: „During the making of Daughters of Darkness he even slapped Canadian actress Daniele Ouimet (who plays Valerie (…)), because he took offense at her arriving on the set too late. After the film had been completed he also criticized producers Collet and Dourot for being incompetent, and actress Seyrig for behaving like a bitch and having hypocritical political views.“* Heute aber erscheint Kümel als sympathischer Mensch, der Frieden mit sich und seinem Werk geschlossen hat.
Deshalb ist es schön, dass man ihn nicht nur für das halbstündige Interview, sondern auch für einen neuen Audiokommentar gewinnen konnte, den er – wie auch das Interview – in Deutsch einspricht. Ebenfalls ein gute Idee ist es, nicht einfach nur eine Bildgalerie durchlaufen zu lassen, sondern diese ebenfalls von Kümel kommentieren zu lassen. Auf der Bonus-DVD befindet sich auch noch die alte deutsche Kinofassung, die sich, wie oben bereits geschrieben, stark von der Originalfassung unterscheidet. Abgesehen davon, dass das Ende hier an den Anfang gestellt wurde und der Epilog fehlt, wird auch die ganze Hintergrundgeschichte mit Stefans „Mutter“ fallen gelassen, und die Synchronisation auf entstellende Weise angepasst. Ein wenig Werbematerial für den Film und ein – wie bei Bildstörung üblich – hervorragendes und höchst umfangreiches Booklet mit zwei Essays von Paul Poet und Björn Eichstädt runden diese überragende Veröffentlichung ab.
An dieser Stelle schreibe ich in der Regel immer so etwas wie ein Fazit. Aber was soll ich hier noch großartig schreiben? Für mich ist „Blut an den Lippen“ ein morbide-erotisches Meisterwerk, welches ich sehr liebe. Und ich hoffe, die neue „Bildstörung“-DVD wird dem einen oder anderen in die Hände fallen, den der Film dann ebenfalls für immer in seinen Bann ziehen wird.
*Harvey Fenton (ed.), Flesh & Blood Compendium, FAB Press 2003
24.11.2014: Da dieser Artikel leider massiv gespammt wurde, muss ich hier leider die Kommentarfunktion deaktivieren.
Kompliment! Ein sehr gelungener Text zu einem meiner Lieblingsfilme. Wie es aussieht, muss auch ich meine gute alte Blue Underground DVD einmotten und gegen die neue Veröffentlichung von Bildstörung eintauschen…
Ich halte Kümel Werke übrigens ebenfalls für äußerst beachtenswerte „Grower“, die einem über die Zeit einfach ans Herz wachsen, nachdem sie einen bei Erstsichtung relativ baff zurückließen.
Persönlicher Bezug ist (sowieso auf einem Blog) immer interessant. Sogar mit eigenen Photos vom Drehort, das ist schon eine Seltenheit und super. Kompliment!
Neben den Karnsteins gab es auf den Leinwänden zu der Zeit ja u.a. noch Das Lustschloss der grausamen Vampire, The Velvet Vampire, Nacht der Vampire, Vampyros Lesbos, Lady Frankenstein, Gebissen wird nur nachts und Beiss mich, Liebling!. Und insgesamt finde ich, erweckt dies aus dem Abstand besehen dann einen organisch verwachsenen Eindruck. Blut an den Lippen passt da rein, wo Elemente überstrapaziert, umgeworfen, fallen gelassen oder neu arrangiert wurden. Auf seine Art.
Ich bau gleich kurz einen Eintrag für die Kanonseite.
Danke für die Komplimente. Ja, die erotischen Vampire waren damals sehr en vogue. Am ehesten kann man „Blut an den Lippen“ aber noch mit Rollin vergleichen. Wobei, auch nicht wirklich. Bei Rollin herrscht eine absolute Traum-Logik vor, „Blut“ ist da erdiger. Tatsächlich würde „Blut“ auch ohne das Vampir-Thema bestens funktionieren. Dass es sich bei der Gräfin und Ilona tatsächlich um Vampire handelt, wird ja auch nie explizit erwähnt. Im Gegenteil: Bis auf einige Details am Ende, könnten sie durchaus auch „normale“ Menschen sein. Bei Rollin und Co. steht demgegenüber das fantastische, traumhafte, Element im Vordergrund.
@Sascha: Oftmals sind es ja gerade die Werke, die einen anfangs ratlos oder in den Erwartungen enttäuscht zurückgelassen haben, die einem mit der Zeit immer wertvoller werden. Geht mir häufig mit Musik-CDs so. eine meiner Lieblingsscheiben, Faith No Mores „Album of the year“, hatte sich mir beim ersten Durchgang auch nicht sofort erschlossen. Heute gehört es zu den Alben, die ich in regelmäßigen Abständen immer wieder anhöre.
Den Vergleich wollte ich gerade nicht ziehen, weil in Blut an den Lippen imho genau das gelungen ist, was über eine Kopie hinausgeht – ein eigenes Werk. Spannend finde ich ebenso, daß immer ein Türchen offen gelassen wird, eine Festlegung auf das Phantastische nicht stattfindet. Das macht viel vom Zauber aus, weshalb ich schon überlegte, wie Blut an den Lippen auf jemanden wirkt, dem die omnipräsenten Anspielungen auf Vampir- bzw. Bathori-Legende wegen vollkommener Unkenntnis nicht auffallen würden. Und da spielt das zeitgenössische Kino denke ich eine große Rolle.
Ich habe selten eine tiefere Leidenschaft gelesen über diesen Film als deine. Auch ich bin diesem Meisterwerk und vorallem der Gräfin anheim gefallen. So entdecke ich doch auch von allen einen gewissen Teil in mir selbst. Eine derartig schöne Liebeserklärung dieses Films las ich nur einmal je zuvor..aber in anderen Worten..Erschloss sich auch für mich nicht beim ersten Mal jede winzige Facette, erschließen sich nun wieder und wieder neue und intensive Entdeckungen, wellenförmig, einzigartig..Vielen Dank für die Inspiration, die soviel neuen Wortschatz säte, der mir ehrlicherweise vorher fehlte..die Sprache einfach zu begrenzt war all das zu erfassen.
Vielen Dank Ivonne für die vielen netten Komplimente!