DVD-Rezension: “Teorema – Geometrie der Liebe”

Teorema

Ein geheimnisvoller Fremder (Terence Stamp) tritt in das Leben des Fabrikanten Paolo (Massimo Girotti) und seiner Familie ein. Er rettet die tiefgläubige Hausangestellte Emilia (Laura Betti) vor dem Selbstmord und hat Sex mit ihr. Nach und nach verführt er Mitglieder der angesehenen Familie und schläft mit ihnen. Als er eines Tages ebenso plötzlich, wie er gekommen ist, wieder abreist, hinterlässt eine große innere Leere bei den Familienmitgliedern, deren Leben dadurch völlig aus der Bahn gerät…

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Der Film „Teorema“ aus dem Jahre 1968 trägt sein Anliegen schon im Titel. Pasolini baut hier eine theoretische Versuchsanordnung auf und inszeniert, was seinem Theorem nach passieren wird, wenn ein fremdes Element in die starre, tote Welt der Bourgeoise eindringt. Das macht es auch sehr schwer, diesen Film zu schauen. Ein oberflächliches Betrachten der Vorgänge führt nur zu immer größer werdenden Fragezeichen. Nein, in einen Film wie „Teorema“ muss man sich hinein graben. Pasolini macht es dem Zuschauer nicht leicht. Er gibt ihm keinerlei Hilfestellungen, wie das Gesehene zu interpretieren ist. Der Zuschauer muss beobachten, das Gesehene für sich bewerten und seine eigenen Schlüsse ziehen.

Pasolini hat sich lange und intensiv mit diesem Stoff beschäftigt, der auf einem seiner Theaterstücke beruht und später von ihm auch in einen Roman umarbeitet wurde. Zieht man die vielen Jahren in Betracht, die der Stoff Pasolini begleitet hat und führt sich vor Augen, dass „Teorema“ all die Themen berührt, die Pasolini zeit seines Lebens wichtig war – der Kampf gegen die Bourgeoisie, der Kommunismus, der Hass auf die Kirche und die eigene Homosexualität – so kann man mit Fug und Recht behaupten, dass „Teorema“ Pasolinis persönlichster Film ist.

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Die Bourgeoisie, das ist einmal der Fabrikbesitzer Paolo, der sich zunächst selbst als kranke, hilflose Person imaginiert und dem die Begegnung mit dem Fremden neue Kraft und Lebenswillen gibt. Ein Mann, der nicht zu seinen Begierden steht, an den Umständen leidet und ohne Ziel im Leben ist. Schlaflos irrt er morgens durch die Räume seines geräumigen Hauses, auf der Suche nach irgendetwas, von dem er nicht weiß, was es ist. Nach der Begegnung mit dem Fremden wirft er allen Ballast von sich. Er verschenkt seine Fabrik, verlässt die Familie und entledigt sich am Ende seiner Kleider. Nur seine Begierde bleibt ungestillt. Als er einem attraktiven jungen Mann auf die Bahnhofstoilette folgen will, verlässt ihn in letzter Sekunde der Mut. So bleibt er dann allein und nackt in einer öden Wüste zurück. Allein mit dem Schmerz und dem Zorn über seine eigene Feigheit, den letzten Schritt zur Selbsterfüllung nicht gegangen zu sein. Und auf der verzweifelten Suche nach einer Erlösung.

Seine wunderschöne, aber frigide Frau Lucia (Silvana Mangano), die nicht nur optisch einer edlen Porzellanpuppe gleicht, erlebt mit dem Fremden ihre sexuelle Befreiung. Doch sie kann damit nichts anfangen. Statt zu ihren Lüsten und Bedürfnissen, die sie nach dem Besuch des Fremden hemmungslos auslebt, zu stehen, findet sie sich im Korsett der – von der Kirche und der Gesellschaft auferlegten – Moral eingeschnürt. Unfähig ein freies Leben zu führen. Erschüttert von Schuldgefühlen.

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Der Fremde wird in der allgemeinen Rezeption des Filmes als Gott oder Engel (manchmal auch „Lichtbringer“ Luzifer, der den Menschen die Selbsterkenntnis brachte) angesehen, der vom Himmel herabgestiegen ist, um unter den Lebenden zu weilen, und sie auf diese Weise tief zu berühren. Bleibt man bei dieser Lesart, so fühlt man sich an die Szene aus „Das Leben des Brian“ erinnert, in der ein Leprakranker sich lauthals darüber beschwert, dass Jesus ihn ohne zu fragen geheilt, und damit seiner Lebensgrundlage beraubt hätte. Ebenso heilt der Fremde die Familie gegen deren Willen. Er reißt sie aus ihrer Erstarrtheit, konfrontiert sie mit ihren innersten Wünschen und einem von allen bürgerlichen Zwängen befreiten Leben. Doch die Familie kann mit diesem Geschenk nichts anfangen. Statt sich zu befreien, sind sie nur verwirrt und werden letztendlich in eine tiefe Verzweiflung gestürzt.

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Die Tochter verfällt vor Sehnsucht nach dem Fremden in einen Starrkrampf und wird in eine Irrenanstalt eingeliefert. Sie ist unfähig, die Leere in ihr mit etwas anderem zu füllen, als der Nähe des Fremden. Der Sohn bricht aus und wird abstrakter Maler. Er versucht dabei die Kunst zu imitieren, die ihm der Fremde gezeigt hat (in einer Szene sehen sie sich gemeinsam ein Buch mit Bildern von Jackson Pollock an), doch er muss erkennen, dass eine Imitation natürlich niemals etwas Echtes sein kann. Er ist nur ein Schwindler, der nur vorgibt zu verstehen, was er dort tut. Will Pasolini damit auf die Schwindler aufmerksam machen, die gar nicht aus sich selber heraus etwas schöpfen können, sondern nur etwas imitieren, was sie nicht verstehen?

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Am Geheimnisvollsten ist die Entwicklung, die die tiefreligösen Hausdienerin Emilia widerfährt. Als der Fremde das Haus verlässt, macht sie sich auf den Weg in ihre süditalienische Heimat. Dort weigert sie sich zunächst zu essen und sich zu bewegen. Dann wirkt sie auf einmal Wunder und heilt die Kranken. Als sie beginnt, sich von Brenneseln zu ernähren, färben sich ihre Haare grün und sie fängt an, über den Dächern zu schweben. Macht sich Pasolini mit dieser beinahe satirischen Überhöhung über Heilgenerscheinungen der katholischen Kirche lustig? Durchaus möglich, wenn man bedenkt, dass Pasolini Atheist und Kirchenkritiker war. Oder hat Emilia als Einzige durch den Fremden einen göttlichen Funken empfangen, da sie als Angehörige des Proletariats nicht leer war, wie die bourgeoise Familie, sondern im Inneren erfüllt mit Gottesfurcht. Und so wie sich die Familie ihrer inneren Leere bewusst wird, so wird sich Emilia dem Göttlichen in sich bewusst? Pasolinis Film lässt viele Deutungsmöglichkeiten zu, und was der Einzelne in „Teorema“ hineininterpretiert, hat auch eine Menge mit den eigenen Einstellungen und Erfahrungen zu tun. „Teorema“ funktioniert wie der geheimnisvolle Fremde. Der Film dringt in unser Leben ein und lässt uns unser Innerstes bewusst werden. Was wir mit dieser Erkenntnis dann anfangen, bleibt uns selber überlassen. Ob wir in einen mentalen Starrkrampf verfallen oder möglicherweise auch nackt durch die Wüste unseres Seins laufen, in der verzweifelten Hoffnung auf Erlösung.

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Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ ist eine geheimnisvolles Puzzle. Eine theoretische Versuchsanordnung, die dem Zuschauer eine Menge über den kritischen Geist Pasolini und die ihm wichtigen Themen verrät. Aber auch einlädt, sich selber mit eben jenen Themen auseinander zu setzen und daraus ganz eigenen Schlüsse zu ziehen. Ein faszinierendes, kryptisches Werk, das diejenigen belohnt, die gewillt sind, sich darauf einzulassen und daran abzuarbeiten.

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Mit seiner wunderbaren „Limited Collector’s Edition“ legt CMV den Film in guter Bildqualität auf Deutsch und Italienisch (mit deutschen Untertiteln) vor. Allein die Aufmachung der DVD-Hülle ist schon sehr schön gemacht. Außen in Lederoptik gehalten, liegen die beiden DVDs (Hauptfilm und Extras) im Inneren der Hülle auf einem Samt-Imitat. Auf der Extras-DVD finden sich zwei Dokumentationen. In der 20-minütige Doku „Die letzte Nacht des Pier Paolo Pasolini“ von Roberta Torre aus dem Jahre 2009, die den für den Mord an Pasolini verurteilen Mörder Pino Pelosi – damals noch ein minderjähriger Strichjunge – interviewt. Da Pelosi sein Geständnis immer wieder neu revidiert hat, ist der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen im Film zumindest zweifelhaft. Trotzdem ein interessantes Dokument. Die zweite Doku „“I Tiburtino Terzo”, ebenfalls von Roberta Torre, werden die Strichjungen und Kleinkriminellen portraitiert, die heute dort ihrem Gewerbe nachgehen, wo einst Pasolinis Mörder (oder auch nicht) aufwuchs. Diese werden zwar auch zu Pasolini befragt, können aber mit dem Künstler nicht viel anfangen. Dazu gibt es noch ein 12-seitiges Booklet mit einem großartigen, persönlichen Text von Silvia Szymanski (deren Beiträge auf „Hard Sensations“ ich mit wachsender Begeisterung verfolge).

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