Ich sag es ja immer wieder und werde nicht müde es zu wiederholen: Das Internationale Filmfest Oldenburg ist für Bremer Filmfreunde eine Reise wert. Auch in diesem Jahr waren viele interessante Filme am Start, die in einer angenehmen und freundlichen Atmosphäre gezeigt wurden. Zudem muss man auch einmal herausstellen, dass man als Zuschauer selten so oft die Chance hat, den Machern der Filme so nah zu kommen. In fast jeder der von mir besuchten Vorstellungen, war der Regisseur anwesend und stand nach dem Film für eine ausführliche Frage- und Antwort-Runde zur Verfügung.
Wie immer reiste ich erst am vorletzten Tag an. Mein Vorhaben am Samstag gleich vier Filme zu schauen, zerschlug sich recht schnell, da ich es einfach nicht früh genug aus dem Bett geschafft hatte. Schade, denn den dänischen Beitrag „Clown“ hätte ich eigentlich gerne gesehen. Schon zwei Wochen vor dem Filmfest hatte ich mich intensiv mit dem diesjährigen Programm beschäftigt und mir einen „Guck-Plan“ zusammengestellt. Nur bei der 17:30 Vorstellung am Samstag war ich noch unschlüssig. Den amerikanischen „Pig“ oder doch lieber der französische „The Orphan Girl Without An Arm„? Als ich so an der Kinokasse stand und mich partout nicht entscheiden konnte, flüsterte mir die sehr nette junge Kassiererin zu, dass eben eine ganze Gruppe ihre Karten für „Pig“ umgetauscht hätten, da ihnen von dem Film abgeraten worden wäre. Dankbar für diese freundliche Entscheidungshilfe ließ ich mir dann eine Karte für den Franzosen geben. Das europäische Kino steht meinem Herzen ja auch näher als das amerikanische.
„The Orphan Girl Without An Arm“ lief im kleinen Raum des Oldenburger Kommunalkinos „cine K“. Der schwarz-weiße Film handelt von einer jungen Frau, die einst als kleines Kind bei einem Autounfall ihre Eltern und den linken Arm verloren hat. Seitdem lebt sie in einem von Nonnen geführten Waisenhaus.
Aber Éléonore, so heißt das schöne Mädchen, ist rebellisch. Sie weigert sich ihre Armprothese zu tragen und treibt sich mit einer Mitbewohnerin in einem Nachtclub, „Le Fetishist“ herum, wo sie sich prompt in den Freund ihrer Mitbewohner, einem ehemaligen Sträfling und jetziger Zauberkünstler, verliebt. Und dann gibt es da noch den Richter mit seinem Museum für Mordinstrumente, der ein Auge auf Éléonore geworfen hat und sich einen kleinen Privatkrieg mit dem Besitzer des Nachtclubs liefert. „Orphan Girl“ ist ein hübscher kleiner Trashfilm, dessen größtes Manko es ist, dass er sich nicht als solcher versteht. Dem Liebhaber südeuropäischer Exploitationfilme der frühen 70er dürften die Beigaben bekannt vorkommen: Schöne, zeigefreudige Mädchen; geheimnisvolle Schlösser; Nonnen; ein schmieriger Nachtclub; bizarre Nebenfiguren; ein Mad Scientist und blutige Morde. Nur, der Film steht nicht dazu und möchte mehr David Lynch als Carlos Aured sein. Besonders störend ist das schwarz-weiß. Man möge mich nicht falsch verstehen: Ich liebe in schwarz-weiß fotografierte Filme… aber dieser hier schreit förmlich nach kräftigen, satten Farben. Zudem – das mag auch an der Beamer-Projektion gelegen haben – bot sich das Bild nur in grauem Matsch ohne kräftige schwarz-weiße Kontraste dar. Schade. Am Anschluss an den Film gab es noch eine Frage- und Antwortrunde mit dem Regisseur, der verriet, dass es auch eine Farbfassung des Filmes gäbe, da diese von seinem französischen Produzenten zwecks besserer Vermarktung verlangt wurde. Er selber würde aber die schwarz-weiße Version bevorzugen, da diese „traumhafter“ sei und einige Szenen (wie z.B. ein Mord ziemlich am Ende des Filmes) in Farbe einfach zu lustig wirken würden. Dies hätte dem Film, den ich als Euro-Trash-Komödie bezeichnen würde, aber sicherlich gut getan. Ein Vergleich beider Versionen wäre sicherlich interessant. Vor dem Film war mir übrigens eine wunderschöne junge Frau aufgefallen, die im Foyer herumlief. Diese entpuppte sich als die sympathische, wenn auch darstellerisch etwas limitierte, Hauptdarstellerin und, ja, sie hat ZWEI Arme 😉
Nach dem Franzosen stand ein weiterer Schwarz-Weiß-Film auf dem Programm: Die in Frankreich gedrehte US-Indie-Produktion „For Lovers Only“. Hier war das Schwarz-Weiß mehr als gerechtfertigt. Angekündigt als „Hommage an die Nouvelle Vague“, war der Film doch eher eine Mischung aus den Paris-Bildern von Robert Doisneau und Musikvideos der späten 80er Jahre. Ein Mann (gespielt von Drehbuchautor Mark Polish) und eine Frau, die vor 8 Jahren eine Beziehung hatten, treffen sich zufällig in Paris. Obwohl beide mittlerweile mit anderen Partnern verheiratet sind, begeben sie sich wie frisch Verliebte auf eine Rundreise durch die schönsten Flecken Frankreichs. Und das ist dann auch schon die ganze Handlung. Man kennt das ja, wenn man im Bekanntenkreis ein frisch verliebtes Pärchen hat. Deren Neckereien und verliebte Albernheiten sind dann meistens auf Dauer nur schwer zu ertragen. So ergeht es dem Zuschauer auch in diesem Film. Nichts ist nun einmal langweiliger, als über eine Stunde glücklich-verliebten Menschen beim Glücklich-Verliebt-Sein zuzuschauen. Am Ende wird es dann zwar interessant. Wenn klar wird, dass dieses Glück nicht ewig währen kann und es ein Wunder bräuchte, um die Zeit acht Jahre zurückzudrehen. Glücklicherweise verkneift sich der Film ein solches Wunder, aber wäre sicherlich spannender gewesen, wenn er gerade diese Tragik durchgängiger thematisiert hätte. So bleiben nach 80 Minuten nicht viel mehr als schöne Bilder von schönen Menschen und Orten, sowie ein toller Soundtrack. Wem das genügt, der wird an „For Lovers Only“ sicherlich seine Freude haben. Witzigerweise bediente sich „For Lovers Only“ am Ende des gleichen Kunstgriffs, wie zuvor „Orphan Girl Without An Arm“. Für wenige Sekunden wird das Bild farbig. Das scheint eine neue Mode zu sein, denn ich hörte, dass auch der dritte schwarz-weiße Film in Oldenburg, der Sieger des German Independence Awards, „Dr. Ketel“, diesen Kniff benutzte.
Den letzten Film des Tages wählte ich ganz unter logistischen Gesichtspunkten aus. Da ich keine Lust hatte, Mitten in der Nacht durch die halbe Stadt zu meinem Hotel zurück zu laufen, ging ich ins „Casablanca“, welches nur einen Katzensprung von meiner bevorzugten Oldenburg-Herberge, dem Hotel Sprenz, entfernt liegt. Dort lief die ungarisch-kanadisch-slowenische Co-Produktion „The Maiden Danced To Death“, die mit der kanadischen Schauspielerin Deborah Kara Unger beworben wurde. Frau Unger gönnte sich auch gerade eine Zigarettenpause, als ich ankam. Sie sah sich gerade zusammen mit ihren Jury-Kollegen Mathew Modine und Radley Metzger einen Film von Ted Kotcheff („Wake in Fright“) an, der in der diesjährigen Retrospektive lief. Leider (oder schönerweise, das hängt jetzt vom Betrachter ab) dauerte die anschließende Frage und Antwort-Runde sehr viel länger als geplant, so dass „The Maiden Danced To Death“ erst mit 20 Minuten Verspätung anfangen konnte. Dabei verirrten sich nicht besonders viele Zuschauer ins „Casablanca“, was mich doch arg verwunderte. War das Kino vor einem Jahr am gleichen Tag und zur selben Zeit doch brechend voll gewesen.
Kurz bevor der Film dann wirklich anfing, stürmte ein überaus gutgelaunter und witziger Mathew Modine in den Kinosaal. Dabei hatte er auch gleich den Regisseur des Filmes, Endre Hules, und Deborah Kara Unger im Schlepptau. Nach ein paar freundlichen Worten und flotten Sprüchen ans Publikum, rauschten die drei dann auch gleich wieder aus dem Saal. Wahrscheinlich ging es von dort aus direkt auf die große Filmfest-Gala, die zeitgleich stattfand.
Obwohl groß als Star des Filmes angekündigt, taucht Frau Unger in „The Maiden Danced To Death“ für nur ca. 5 Minuten als Ex-Frau des Hauptdarstellers auf. Überhaupt war der kanadische Anteil dieser Co-Produktion fast nicht zu bemerken. Es blieb ein ungarischer Film mit einem ungarischen Thema. Der Film handelt von zwei Brüdern. Einer durfte nach einem Auslandsaufenthalt vor 20 Jahren nicht wieder ins Land einreisen und musste sich in Kanada ein neues Leben aufbauen, was er unter amerikanisiertem Namen auch sehr erfolgreich schaffte. Er ist nun ein sehr erfolgreicher Promoter von Tanzgruppen. Sein in der Heimat zurückgebliebener jüngerer Bruder übernahm die gemeinsame Tanzgruppe und kämpft heute um das berufliche Überleben. Neuen Erfolg soll das Stück „The Maiden Danced To Death“ bringen, welches der jüngere Bruder gerade mit seiner Truppe einübt. Eines Tages taucht der Ältere wieder auf und bietet dem Jüngeren an, die Promotionen des Stückes zu übernehmen. Tatsächlich ist dies aber seine letzte Chance, denn was keiner weiß: Er ist aus seiner eigenen Firma gedrängt worden und seine Frau hat ihn mit dem gemeinsamen Kind verlassen. Die Proben zum Stück laufen gut und alles scheint ein Erfolg zu werden, doch da brechen alte Streitigkeiten wieder auf und der Ehrgeiz des Älteren droht die Tanzgruppe zu sprengen. Außerdem gibt es da noch ein dunkles Geheimnis aus kommunistischen Tagen.
Was als Erstes ins Auge fällt, sind natürlich die Tanzszenen, die sehr dynamisch und mitreißend inszeniert sind. Auch die Darsteller passen gut ins Bild und hier muss man besonders Bea Melkvi erwähnen, deren erste große Rolle dies ist. Sie spielt die Ehefrau des jüngeren Bruders und Ex-Geliebte des älteren. Zudem ist sie in vielen der Tanzszenen gefordert und bringt sich auch hier sehr souverän ein. Auch Zsolt László weiß mit seiner konzentrierten Darstellung als jüngerer Bruder zu gefallen. Allein, ob es eine gute Idee war, das Regisseur und Drehbuchautor Endre Hules sich selbst in der Hauptrolle als älterer Bruder besetzte, wage ich zu bezweifeln. Er wirkt einfach von der Physionomie her nicht unbedingt wie ein berühmter Ex-Tänzer und großer Verführer.
Das große Thema des Filmes ist die unverarbeitete Vergangenheit, die auf vielen Ebenen das gegenwärtige Leben belastet. Da sind zunächst einmal die beiden Brüder, die schon immer Konkurrenten waren; dann die Ehefrau des einen, die einst die Geliebte des anderen war, und dann gibt es auch noch die politische Ebene. Wie dies alles, die totgeschwiegene Geschichte des Landes und die der Familie, miteinander verwoben wird, hat mir sehr gut gefallen. Nicht aufdringlich mit dem Holzhammer, sondern ganz unterschwellig, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass in Ungarn noch vieles unausgesprochen und unverarbeitet ist und damit die Hand der Vergangenheit bis heute in die Gegenwart greift. Leider ist das Ende des Filmes etwas abrupt und unrund, aber insgesamt ist das Werk durchaus empfehlenswert.
Nach dem Film, zu später Stunde, kam auch Regisseur und Drehbuchautor Endre Hules zurück in den Kinosaal, um mit dem – wie gesagt, nicht besonders zahlreich erschienenen – Publikum zu plaudern. Dies tat er auf sehr sympathische Art und Weise. Es war dabei sehr interessant zu hören, dass der Film bisher noch keinen Verleih in Ungarn hat und bei seiner bisher einzigen lokalen Aufführung – beim Filmfest in Budapest – gleich einen Skandal auslöste, da er u.a. auch das Thema Spitzel und Geheimdienst behandelt. Laut Hules war der Übergang von Kommunismus in ein demokratisches Land in Ungarn so sanft, dass heute noch viele Entscheidungsträger von damals in Amt und Würden seien. Überhaupt zeichnete Hules ein recht pessimistisches Bild von der aktuellen politischen Situation in seinem Heimatland. Wollen wir hoffen, dass sich seine pessimistischen Prognosen nicht bewahrheiten und auch sein im Heimatland kontrovers aufgenommener Film, bald einen ungarischen Verleih findet. Verdient hätte er es.
Nach drei Filmen hintereinander merkte ich dann langsam, dass meine besten Zeiten – wo ich z.T. sechs Filme hintereinander sehen konnte ohne schlapp zu machen – wohl endgültig vorbei sind. Müde schleppte ich mich zu meinem Hotel, welches zum Glück ja gleich um die Ecke war. Am nächsten Tag ging es dann weiter, aber davon berichte ich dann im zweiten Teil.