Jubiläum! Zum nunmehr 30. Mal öffnete das Internationale Filmfest Oldenburg seine Tore. Hatte ich aus diesem Grund ein besonders rauschendes Filmfest erwartet, so wurde ich enttäuscht. Nein, nicht direkt enttäuscht, sondern es verblüffte mich, dass das Filmfest ausgerechnet in diesem Jahr ein wenig karg daher kam. Offensichtlich musste sehr viel Geld eingespart und das Budget auf ein Minimum reduziert werden. Dies fiel schon im Vorfeld auf. Es gab keine zugkräftigen Namen als Stargäste. Gut, damit kann ich ausgezeichnet leben, aber dass die Retrospektive ersatzlos gestrichen wurde, tat dann doch weh. Gerade hier hatte ich in den Vorjahren viele tolle Entdeckungen machen dürfen. Die Spielzeiten im Casablanca erschienen mir auch reduziert. Ebenso entfielen diesmal die traditionellen Vorstellungen in der JVA, welche immer ein Alleinstellungsmerkmal des Filmfest Oldenburg waren. Mir persönlich sauer aufgestoßen war der Verzicht auf ein physisches Programmheft. Scheinbar war der Druck zu teuer, so dass man es nur über die Homepage des Festivals aufrufen konnte. Am Handy eine Qual. Überhaupt die Webseite. Aus welchem Grund die Filterfunktion für die Filme plötzlich verschwunden ist, kann ich nicht nachvollziehen. So ist es von heute auf morgen nicht mehr möglich gewesen, das Programm nach Tagen, Kinos oder Reihen zu filtern. Überhaupt die Reihen – zumindest auf der Webseite existierten sie nicht mehr. Der Grund dahinter erschließt sich mir nicht. Die Pressebetreuung war auch nicht ideal. Ich kam am Freitag extra früh in Oldenburg an, um in Ruhe alles nötige zu organisieren. Da wurde mir im Pressezentrum mitgeteilt, dass man eigentlich erst um 16:00 Uhr öffnen würde und sich dementsprechend nicht um mich kümmern könne. Die Journalistin vor mir würde noch bedient, aber dann „habe ich eigentlich anderen Dinge zu tun“. Jene Journalistin raunte mir dann zu, dass die junge Dame völlig überfordert sei, weil einfach viel zu wenig Personal angestellt worden sei. Es gelang mir dann doch noch, die junge Dame zu überreden, mich noch „abzufertigen“, da mein erster Film bereits um 16:30 starten würde und es doch sehr knapp werden könne, wenn ich dann erst um 16:00 Uhr meine Akkreditierung und Tickets bekommen würde, und zudem möglicherweise in einer Schlange stehen müsse. Zudem merkte ich an, dass es etwas unglücklich sei, dass man keine Info vorab erhalten habe, dass das Pressezentrum erst um 16:00 Uhr öffnen würde. Woraufhin sie meinte, das stehe doch an der Tür. Tja, die kann man von Bremen nur so schlecht sehen, entgegnete ich. Aber immerhin war die junge Dame zwar sichtlich überarbeitet, aber sehr freundlich und letztendlich ging ja alles gut aus.
Also dann nach einem kleinen Ausflug in die Oldenburger City rüber ins cineK wo im größeren „Studio“ der für mich erste Film wartete. Und dort merkte ich dann auch, was die Journalistin mit „viel zu wenig Personal“ meinte. Während früher hier mindestens zwei junge Leute vom Filmfest standen, hatte diese Aufgabe diesmal ein Herr übernommen, den ich zuvor – soweit ich mich erinnere – hier noch nie gesehen habe, und der einen ganz eigenen Humor pflegte. So stürmte er vor dem Film ins Kino, verkündete, dass er eh nichts zum Film sagen können und man doch lieber den Films sehen als ihn quatschen hören würde. Daraufhin stürmte er mit einem lauten „Also! Film ab!“ wieder heraus. Kam bei einigen im Publikum gut an, ich fand es etwas befremdlich. Aber gut.
Little Girl Blue – Der Ansatz von Mona Achaches Film ist ein sehr interessanter gewesen. Carole Achache, die Mutter der Filmemacherin, war eine in Frankreich offenbar bekannte Autorin, die mit einem autobiographischen Roman großen Erfolg hatte und mit 63 Jahren Selbstmord beging. Die Tochter versucht nun mit ihrem Meta-Film das Leben ihrer Mutter anhand von Tonbandaufnahmen, Filmen und Bildern zu rekonstruieren. Dazu hat sie Schauspielerin Marion Cotillard mit ins Boot geholt, die in die Rolle der Mutter schlüpft. Und dies so perfekt, dass man tatsächlich völlig vergisst, dass man hier „nur“ eine der erfolgreichsten französischen Schauspielerinnen der Gegenwart vor sich hat, sondern nur noch Carole Achache sieht. Die Metamorphose ist komplett. Erst spät im Film fiel mir auf, dass Marion Cotillard gar nicht selber sprach, sondern zu den realen Tonbandaufnahmen von Carolin Achache lediglich die Lippen bewegte. So spannend dieser Ansatz ist und so großartig das Spiel von Marion Cotillard, so ist der Film aufgrund seiner ungeheuren Monologlastigkeit (französisch mit englischen Untertiteln, die man permanent mitlesen muss) sehr anstrengend. Erschwerend kommt hinzu, dass hier einiges an Wissen um die Pariser Intellektuellenszene der 50er, 60er und 70er vorausgesetzt wird. Denn wie ihre Tochter an ihr, arbeitete sich auch Carole Achache an ihrer Mutter Monique Lange ab, die ebenfalls eine bekannte Autorin war und – wie sie – in eben jenen Kreisen Zuhause war. Ohne das im besten Falle vor dem Film angelesene Wissen um Monique Lange und Carole Achache, sowie ihre Zeitgenossen schwirrt, einem schnell der Kopf ob der Vielzahl an Namen und Persönlichkeiten, die einem da maschinengewehrartig um die Ohren gefeuert werden. Es macht auch Sinn, sich vorher einmal mit Jean Genet beschäftigt zu haben, der für Monique Lange und Carole Achache eine große Rolle im Leben spielte. So wächst der Film, wenn man sich im Nachgang mehr mit den realen Protagonisten beschäftigt. So fühlt man sich als „Uninformierter“ erst einmal – trotz der Brillanz einer Marion Cotillard und den aufregenden Lebenswegen der Hauptfiguren – komplett erschlagen, erschöpft und oftmals etwas ratlos.
Danach ging es ins weitaus kleinere, aber gemütlichere und charmantere cineK Muvi, wo ich meinen Weird-Xperience-Kollegen und Mit-Cineasten Stefan traf, mit dem ich ab jetzt alle weiteren Filme am Freitag und Samstag schauen sollte. Was wie immer eine große Freude war.
Behind the Haystacks – Der Film der griechischen Regisseurin Asimina Proedrou erzählt die Geschichte einer im Norden Griechenlands, nahe der nordmazedonischen Grenze lebenden Familie und wie diese zerfällt, als der Vater einen Job als Schleuser von syrischen Flüchtlingen annimmt. Erzählt wird der hochinteressante Film in drei Teilen. Der erste – welcher durchaus Anleihen im Gangster – und Noirfilm nimmt – konzentriert sich auf den Vater und erzählt die Geschichte aus dessen Perspektive. Im zweiten Teil liegt der Fokus auf der Mutter, und der letzte widmet sich der Tochter. Zunächst verwirrt diese Struktur etwas, dass die einzelnen Geschichten immer wieder Leerstellen aufweisen, bei denen sich der Zuschauer zunächst fragt, ob er eventuell eine wichtige Information verpasst hat. Diese Leerstellen werden dann aber in den weiteren Abschnitten aufgefüllt, wobei sich interessanterweise tatsächlich keine Szene wiederholt. Also Handlungsabschnitte nicht einfach nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln gezeigt werden. Obwohl keine der Figuren – wenn, dann vielleicht die Tochter – als Sympathieträger taugt, so ist man doch so nah an den Charakteren dran, dass man zumindest eine Verständnis und auch Mitgefühl für sie entwickelt. So würde beispielsweise der Vater – wenn man seine Geschichte nicht kennen würde – oftmals einfach nur wie ein jähzorniges Monstrum wirken. Und die Mutter erscheint im ersten Teil noch als um Balance bemühte Seele, während sie im zweiten – und vielleicht interessantesten Teil – sich als von Verpflichtungen, Rollenmodellen und religiösem Druck Getriebene entpuppt, um ihm letzten Teil autoritär das Interesse der Familie und hier vor allem der Tochter dem gesellschaftlichen Ansehen unterordnet. Wobei sie ihre Auge vor den Bedürfnissen und Gefühlen ihrer Familie verschließt, um letztendlich im alten, nur scheinbar harmonischen Trott weiterleben zu können. Der Film reißt auch Themen wie die Flüchtlingsproblematik an, formuliert diese aber nicht unbedingt aus. Vielmehr nutzt er sie, um einem die Handelnden näherzubringen und sie zu charakterisieren. Getragen wird der Film von seinen fantastischen Schauspieler und Schauspielerinnen, die komplett mit ihren Rollen verschmelzen.
Die überaus sympathische Regisseurin war zur Vorstellung anwesend. Die Q&A übernahm ein mir nicht bekannter Filmemacher, dessen Name mir nicht geläufig war, und den ich daher leider vergessen habe. Dies war ein neues Konzept, welches das Filmfest ausprobiert hat: „Filmmakers on Filmmakers“. Meine Vermutung: Dieses Konzept war sehr wahrscheinlich auch dem Sparzwang geschuldet. Denn während in all den Vorjahren die Q&A vor allem von jungen Mitarbeitern des Filmfests geleitet wurde, so sparte man dieses Personal in diesem Jahr komplett ein. Tatsächlich fiel mir niemand auf, der wie in den Vorjahren im Filmfest-T-Shirt für Kartenkontrolle, Ansagen und eben die Q&A anwesend war. Dies wurde von einem absoluten Minimum an Personal und eben den „Filmmakers on Filmmakers“ erledigt. Was zur Folge hatte, dass eigentlich jede Q&A zeitlich völlig aus dem Rahmen lief und vor allem Fragen gestellt wurden, die für einen Filmemacher, aber nicht zwangsläufig für das Publikum interessant sind. Zumindest unterstelle ich mal, dass den Durchschnittszuschauer nicht interessiert, mit welcher Kamera der Film gedreht wurde.
Die Q&A ging dann auch so lange, dass man sofort zurück ins Studio fiel und keine Zeit zum Verschnaufen blieb.
The Belgian Wave – Die belgische Mockumentary „Spit’n‘Split“ von um die – real existierende – „The Experimental Tropical Blues Band“ war eins der Highlights des 24. Internationalen Filmfests Oldenburg im Jahre 2017. Über diesen Film schrieb ich damals er sei „durchaus harter, unangenehm realistischer, dreckiger Punkfilm mit rabenschwarzhumorigen Untertönen“. Umso gespannter war ich nun auf den zweiten Spielfilm des Regisseurs Jérôme Vandewattyne, welche nun sechs Jahre später ebenfalls in Oldenburg lief. Und ich wurde nicht enttäuscht. Vandewattyne vermischt in „The Belgian Wave“ wie im Vorgänger Realität und Fantasie und lässt seine Figuren in eine absurd-surreale Situation nach der anderen schlittern. Grundlage sind die (tatsächlich stattgefundenen) gehäuften UFO-Sichtungen in Belgien, die im November 1989 begannen und ihren Höhepunkt Ende März 1990 erreichten. Vandewattyne nutzt altes TV-Material, mischt dies mit Fake-Found-Footage eines auf dem Höhepunkt der Welle angeblich verschwundenen Reporters, dessen Erlebnisse (und geistige Gesundheit) graduell in den Wahnsinn driften. In der Gegenwart versucht sein stetig unter Drogeneinfluss stehender Patensohn und die kleinwüchsige Tochter seines Kameramanns die Schicksal des Journalisten herauszufinden. Ihre Reise führt ebenfalls durch ein seltsames Traumland in knalligen Farben in dem es von Star-Trek-Süchtigen Anwälten, einer voll-tätowierten Notarin mit Welthass und Kuchensucht, einer geheimnisvollen Sekte und vielem anderen mehr wimmelt. Garniert wird alles mit einem knalligen Soundtrack, der ordentlich aus den Boxen knallt. Klar, manches erinnert an Terry Gilliams „Fear and Loathing in Las Vegas“ oder Lynch light. Aber man merkt, dass die Macher ihren Spaß hatten und dieser überträgt sich auf das Publikum. Nach dem Film kommt man einmal ordentlich durchgeschüttelt und mit einem ähnlich seligen Lächeln wie Hauptfigur Elzo nach einem seiner LSD-Trips aus dem Kino.
Der sehr sympathische Regisseur Jérôme Vandewattyne war mit seinen Hauptdarstellern anwesend und die nahmen gemeinsam gleich das Publikum für sich ein. Es wurden lustige und interessante Anekdoten vom Low-Budget-Dreh erzählt, von den Schwierigkeiten des Filmemachens berichtet und der gute Zusammenhalt aller gelobt. Schade war, dass Hauptdarstellerin Karen De Paduwa nicht einmal zu Wort kam. Faszinierend fand ich, dass Hauptdarsteller Karim Barras im wirklichen Leben ganz anders aussah wie im Film, nämlich exakt wie Checker Tobi vom Kika! Und in Nebendarstellerin Séverine Cayron (die scheinbar eine enge Beziehung zu Vandewattyne hat) konnte man sich schon ein wenig verlieben. Starker Film und würdiger Abschluss des ersten Tages.