Lamento: Ein Dinosaurier in Warschau oder Das Ende des Offline-Shoppings in Polen

Als ich 2006 anfing der Liebe wegen regelmäßig nach Warschau zu fahren, war ich begeistert von dem Angebot an Filmen hier. In den meisten Läden füllten DVDs mit polnischen Filmen viele Regalmeter, und die meisten hatten englische Untertitel. Für mich war damals der polnische Film noch „Terra incognita“. Doch hier fand ich wunderbare Zusammenstellungen an polnischen Dokumentarfilmen, Animationsfilme, gut kuratierte (in der Bildqualität heute leider nicht mehr so ansehnliche) Editionen mit den wichtigsten Filmen der „Polnischen Filmschule“ der späten 50er und frühen 60er. Und natürlich Wajda bis zum Abwinken, aber auch andere wichtige polnische Werke (die dann leider häufig, aber nicht immer ohne Untertitel). Aber auch die gerade aktuellen Filme nahm ich gerne mit und lernte so Regisseure wie den großartigen Wojciech Smarzowski kennen.

Zunächst „lebte“ ich von Tipps, die mir meine Freundin/Verlobte/Ehefrau gab. Später studierte ich intensiv das Programm der Polnischen Filmfestivals in Deutschland und vor allem von dem in Gdynia. Auch in die polnische Filmgeschichte grub ich mich immer tiefer ein. Jeder Besuch in Warschau war ein Quell der Freude, da es immer wieder etwas Neues zu entdecken gab. Und natürlich machte die Jagd nach einzelnen Titeln auch ungeheuren Spaß. In den Jahren wurde dies aber im frustrierender, denn die oben angesprochen Regalmeter schrumpften, die tollen Reihen mit Klassikern o.ä. wurden eingestellt und DVDs, die älter als ein Jahr waren, waren plötzlich nicht mehr erhältlich. „Traffic“, wo ich gerne mal schaute, machte zu. Im größten und bestsortierten „Empik“-Läden (so etwas wie unser Thalia, aber mit sehr viel größerem Sortiment  auch an Musik und Film) wurde die Auswahl an DVDs immer kleiner.

Dasselbe galt übrigens auch für CDs. Ich habe eine Leidenschaft für polnischen Jazz entwickelt. Und am Anfang war das toll. Da gab es im angesprochen „Empik“ einen eigenen Raum für Jazz und Klassik, wo man alles bekam. Und Abspielstationen, wo man die CDs probehören konnte. Da habe ich Stunden mit Stapeln von Jazz-CDs in der Hand verbracht und gehört und vor allem entdeckt. Diese Stationen waren das erste Opfer. Dann verschwand plötzlich der ganze Raum. Und die Auswahl immer von Jahr zu Jahr immer kleiner. Letztes Jahr war der große „Empik“-Headstore in der Marszałkowska plötzlich ebenfalls verschwunden. Drei Etagen… weg. Heute ist da ein Billig-Laden mit heruntergesetzter Textil-Ware drin. Aber auch anderswo verschwanden Ton- und Bildträger. Media Markt hat zum größten Teil gar keine DVDs und CDs mehr und wenn doch, dann in homöopathischen Mengen. Einen gut sortierten, kleineren „Empik“ in der Nowy Świat gab es noch – der ist dieses Jahr aber auch nicht mehr da. Andere „Empik“s verkaufen noch eine Handvoll CDs (meistens populäres Zeugs, Jazz ist auf ein absolutes Minimum reduziert), Filme aber gar nicht mehr. Als ich dort danach fragte, wurde ich auf den letzten größeren „Empik“ in der Innenstadt (im Einkaufszentrum Złote Tarasy) verwiesen.

Die Menge an CDs und nun auch Vinyl ging dort auch noch, auch wenn die Auswahl für Jazz leider sehr klein war. Was Filme angeht… ein schmales Regal (siehe Bild) stand dort noch und hier teilten sich nicht mal mehr eine Handvoll polnischer Filme den wenigen Platz mit Marvel- und Star-Wars- und anderen US-Filmen.

Ich vermute mal, die Entwicklung rollt auch auf uns zu. Saturn z.B. hat in Bremen ja das DVD/Blu-ray-Angebot auch schon deutlich reduziert. Ja, die Tendenz geht zum Streamen und da ist die kostbare Verkaufsfläche wohl unrentabel, wenn sie mit DVD/Blu-rays „verstopft“ wird. Ist nachzuvollziehen. Aber irgendwie bin ich da schon etwas traurig und vermisse das stundenlange Stöbern und Wühlen. Das Entdecken und die Freude, wenn man überraschenderweise eine lange gesuchte Scheibe aus dem Fach gezogen hat. Das ist jetzt eine vergangene Zeit. Zumindest in Polen.

Dieses Jahr habe ich dann – da ich gerade mal zwei Filme von meiner Liste gefunden habe – einen Online-Versand ausfindig gemacht, der auch nach Deutschland verschickt. Den probiere ich jetzt mal aus. Für polnische Jazz-Sachen habe ich schon letztes Jahr einen sehr guten Online-Händler (serpent.pl) gefunden. Das Leben spielt sich für den Freund polnischer Filme (und Jazzmusik) jetzt eben Online ab. Ohne das Kribbeln, wenn man einen Laden betritt und sich fragt, was man dort wohl findet. Alles ist jetzt mal eben per Klick erreichbar. Das ist einerseits schön, andererseits… nennt mich einen alten Dinosaurier, aber ich vermisse die alten, nun für immer verlorenen Zeiten wirklich sehr.

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3 Antworten zu Lamento: Ein Dinosaurier in Warschau oder Das Ende des Offline-Shoppings in Polen

  1. Andreas Mittrenga sagt:

    Sehr schöner Artikel. Ich bin selbst ein Dinosaurier und kenne (und vermisse) selbst dieses Suchen und Wühlen und dieses unvergleichliche Gefühl, wenn man plötzlich etwas vor sich hat, was man seit Jahren suchte!

  2. Marco Koch sagt:

    Hallo Andreas, schön zu hören, dass man mit seinen Leidenschaften nicht so ganz allein auf der Welt ist. 🙂

  3. Pingback: Shopping: Schallplattenläden in Warschau – Klang und Vision

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