Bericht vom 32. Internationalen Filmfest Oldenburg – Tag 2

Der zweite Tag beim Filmfest Oldenburg begann für mich mit sehr viel Hektik und Stress. Das lag aber nicht am Filmfest, sondern an gesperrten Straßen in Bremen und sich dadurch ergebenden langen Staus, weshalb ich es gerade so zum ersten Film schaffte, den ich im kleinen cineK Muvi wieder mit meinem Weird-Xperience-Kollegen Stefan sah.

„Rains over Babel“ aus Kolumbien ist ein wirklich schöner Film, dem man die Liebe anmerkt, die die Regisseurin in ihn hineingesteckt hat. Dabei fallen vor allem die lebendig gezeichneten Figuren (obwohl mindestens zwei von ihnen bereits das Zeitliche gesegnet haben) auf, die sich in dieser Queer-Drag-Trash-Fantasie tummeln.

Die Handlung spielt vor allem in der Bar Babel, die in einer Zwischenwelt zwischen den Lebenden und Toten liegt. Hier regiert La Flaca, eine Inkarnation des Todes. Ihr Helfer ist Dante, der die Seelen Verstorbener einsammelt und versucht, seine eigene Identität zu entschlüsseln. Da ist Monet, der versucht nach seinem versehentlichen Drogentod schnell wieder in seinen leblosen Körper wechseln zu können. Und noch viele mehr, die versuchen La Flaca zu überlisten oder ihr wahres Ich zu finden.

Zugegeben, zunächst fällt es schwer, sich in dieser schrill-schräg-neonbunten Hölle zurechtzufinden. Zu überbordend ist das Personal, zu seltsam die Regeln und Mythen dieser Welt. Aber mit fortschreitender Spielzeit funktioniert dies immer besser. Die Zuschauerinnen werden Stück für Stück mit Informationen gefüttert, die sich über die Dialoge der Hauptfiguren erschließen. Vor allem schwappt die Leidenschaft der Regisseurin Gala del Sol für Filme auf einen über und man spürt, dass sie eine Geschichte erzählen möchte, die durchaus auch mit Glauben und Liebe in allen Facetten zu tun hat, die ihr am Herzen liegt und die ihr aber auch Spaß macht. In der Q&A sprach Gala del Sol davon, dass sie sich auch eingehend mit Glauben und Religion beschäftigt habe. Und es ist sehr schön und erfrischend, dass der Glaube hier einmal nicht mit „schlecht“ und „freudlos“ gleichgesetzt wird, sondern dies der Institution Kirche vorbehalten bleibt. Denn der Film kritisiert mehr, was andere Menschen aus dem Glauben machen. Dies wird aber nicht zu einem bitteren Ende geführt, sondern der Film gönnt uns und seinen Figuren ein nettes Happy End. Und so kann am Ende auch der homophobe Prediger zur Liebe und Akzeptanz gebracht werden.

Der Film lebt neben seinen wunderbaren Kulissen vor allem von seinen großartigen Hauptdarstellerinnen und Hauptdarstellern. Ganz besonders stechen in dem überzeugenden Ensemble der sehr charismatische Darsteller des Dante, Felipe Aguilar Rodriguez, und Santiago Pineda als mysteriöser, die Fäden in der Hand haltender Barkeeper heraus. Ein gesondertes Kompliment geht dabei an die Make-up-Künstlerinnen, die deren Gesichtern und Erscheinungen durch ganz subtiles, aber hocheffektives Make-up eine spezielle, geheimnisvolle, aber zugleich auch sehr sexy Aura verleihen. Die Queer/Drag-Thematik wird hier nicht forciert, sondern fügt sich ganz natürlich in den Film ein. In dieser offenen Welt kann jede/r etwas mit jedem/r haben. Das ist natürlich und darüber wird auch kein großes Aufsehen gemacht.

„Rains over Babel“ macht großen Spaß und wird noch von einem tollen Soundtrack unterstützt. Auch wenn man Dantes Inferno nicht gelesen hat und manches, was aus dem großen Mythen-Fundus geschöpft wurde, vielleicht nicht so einfach zu dechiffrieren ist, kann man seine große Freude an diesem mit Wärme und Leidenschaft erzählten Film haben. Dies auch aufgrund seines Set-Designs und der fantasievollen Kulissen.

Danach ging es rüber in den Theaterhof. Dort wurde der zweite Film gezeigt, auf den ich mich im Vorfeld sehr gefreut hatte: „Summer Hit Machine“. Dabei stellten Stefan und ich fest, dass wir tatsächlich alle Filme des Regisseurs gemeinsam in Oldenburg gesehen haben – und mittlerweile beide so etwas wie Fans sind. Vorweg gab es wieder einen Kurzfilm, über den ich aber erst später schreiben werde.

Summer Hit Machine“ ist der neue Film des Belgiers Jérôme Vandewattyne, dessen vorherige Filme allesamt in Oldenburg liefen und immer wieder ein Quell der Freude waren.

„Summer Hit Machine“ beginnt zunächst wie eine Mockumentary. Es geht um den überforderten Musikproduzenten Marius, der einmal einen Erfolg landen konnte und diesen nun mit einer ausgesprochen seltsamen Punk-Band noch einmal wiederholen möchte. Dazu zieht man sich in ein abgelegenes Tonstudio auf dem Lande zurück. Und hier kommt es schnell zu Konflikten, die noch gesteigert werden, wenn der nicht ganz so erfolgreiche, intrigante „Freund“ und Geschäftspartner Allan (ein großartiger Karim Barras, von dem man gerne noch mehr sehen möchte) dazukommt, der es nicht ertragen könnte, wenn Marius noch einmal Erfolg haben sollte.

Der Humor ist hier eher subtil und nicht so durchgedreht wie in Vandewattynes vorigen Filmen. Da Vandewattyne selbst auch Musiker ist, kann er viele Insider-Witze über das Musikbusiness einbringen. Aber auch wenn man sich in diesem Geschäft nicht so gut auskennt, funktioniert der Film sehr gut. Denn er ist im Grunde genommen ein Plädoyer für Freundschaft und Kreativität, aber auch eine Warnung vor Manipulation und manipulativen Menschen.

Die Musik macht auch Spaß, auch wenn sie hier bewusst „schräg“ und „unprofessionell“ klingt und sehr, sehr laut ist. Punk eben. Die Schauspielerinnen spielen alle sehr natürlich, sodass man ihnen ihre Rollen jederzeit abnimmt. Viele von ihnen sind auch selbst Musiker. So spielt der Leadgitarrist der fiktiven Band Chevalier Surprise ebenso wie deren Drummer in der realen Band The Experimental Tropic Blues Band, über die Vandewattyne in seinem Langfilmdebüt eine fiktive Doku gedreht hat. Aber auch Vandewattyne selbst und seine Ehefrau Séverine Cayron (die hier ebenfalls wieder mitspielt) machen seit 2020 als Cold-Wave/Electro-Rock-Duo Pornographie Exclusive gemeinsam Musik.

Durch das Thema Musik, Band und Punk sowie der Mitarbeit zweier Mitglieder der Experimental Tropic Blues Band ist der Film auch so etwas wie eine Rückkehr Vandewattynes zu seinem ersten Film, der auch als Mockumentary angelegt war. Hier weicht er diesen Stil auf, denn bis auf die für Dokumentationen obligatorischen Interview-Szenen wird nie direkt in die Kamera gesprochen, ohne dass die Gegenwart eines Kamerateams irgendwie thematisiert wird. Spätestens wenn Vandewattyne beim Drogenrausch seiner Figuren experimentelle Effekte einsetzt und deren Albträume zeigt, wird diese Ebene ganz verlassen. Was vielleicht zu kleinen Irritationen führt, aber gut ins Gesamtbild passt. Vandewattyne lässt sich eben weder festlegen noch ausrechnen. In der Q&A verriet Regisseur Vandewattyne, dass er sowohl im Musik- wie auch im Filmgeschäft vielen Personen wie Allan begegnet sei. Und eigentlich sollte diese Person am Ende ermordet werden, aber er fand das jetzige Ende dann besser, da es mehr das echte Leben widerspiegelt.

Der Vorfilm „Lost in Space“ war wieder einmal ein echtes Gewächs der Oldenburg Connection. Regisseur Edgar Pêra war die letzten beiden Jahre mit einem Film in Oldenburg vertreten. Dieses Jahr hat er den Trailer für das Festival kreiert und aus den „übrig gebliebenen“ KI-Bildern eine Art Bilder-Schau im Rhythmus der sehr lauten und treibenden Musik von Sula Bassana erstellt. Schon vor dem Screening konnte man die Freundschaft zwischen ihm und Vandewattyne sehen, als sich die beiden einfach mal gegenseitig zu ihren Filmen befragten.

Ich vermute, der Film „One-Way Ticket to the Other Side“, der letztes Jahr in der Mitternachtsschiene lief, war ein Schlüsselerlebnis für die starke kollegiale Freundschaft der Filmemacher untereinander und der Verbundenheit zum Festival. In dieser Kurzfilm-Anthologie, die vom Festivalleiter Torsten Neumann mitproduziert wurde, kleideten unterschiedliche Filmemacherinnen, die dem Festival verbunden sind – sei es, weil sie Filme am Start hatten oder auch moderierten – die Musik des Duos Pornographie Exclusive (eben Jérôme Vandewattyne und Séverine Cayron) in kurze Filme. Und von denen, die damals dabei waren (u. a. natürlich Pêra), waren – soweit ich das überblicken kann – fast alle auch dieses Jahr wieder in Oldenburg. Eine große Familie eben mit dem Filmfest als Familientreffen. Was dann auch wieder die besondere Atmosphäre hier ausmacht. Und so steht im Abspann von „Summer Hit Machine“ dann auch eine Danksagung an die „Oldenburg Gang“.

Das erste Mal in Oldenburg dabei war der österreichische Filmemacher Christian Genzel, der seinen Dokumentarfilm „Finding Planet Porno“ vorstellte. Christian kenne ich schon länger. Er schrieb früher für unser Filmmagazin „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“, zudem teilten wir uns beim Internationalen Filmfest Braunschweig einmal ein Zimmer. Sein Film lief in der Mitternachtsschiene, wieder im kleinen cineK Muvi, und war für die Zeit anständig besucht.

Finding Planet Porno: The Wild Journey of American Cinema’s First Outlaw“ ist eine gelungene Dokumentation über einen ganz besonderen Filmpionier. Es geht nämlich um Howard Ziehm, den man vor allem für seine Mitarbeit an dem offenherzigen Kulthit „Flesh Gordon“ kennt, der aber auch die ersten Pornofilme in den USA produzierte. Und dessen Hardcore-Film „Mona: The Virgin Nymph“ bereits zwei Jahre vor „Deep Throat“ ein Kassenschlager war.

Die Dokumentation bietet interessante Einblicke in die Anfänge der Porno-Industrie der 70er-Jahre, ist aber gleichzeitig auch ein warmherziges Porträt eines interessanten Menschen. Dabei werden die dunklen Seiten nicht explizit angesprochen, aber auch nicht gänzlich ausgespart. Nur die Geschichte mit Ziehms langjährigem Partner, der ihn kräftig übers Ohr gehauen hat und offensichtlich eine Menge kriminelle Energie besitzt, zeigt, dass nicht nur freundliche Menschen in der Szene unterwegs waren. Es scheint so, als hätte sich dieser „negative“ Blickwinkel bei den vielen Gesprächen mit Pionieren und Akteuren der damaligen Szene einfach nicht ergeben. So entsteht einerseits der Eindruck eines heilen Sex-Wonderlands, andererseits kann sich jeder Zuschauer aufgrund der Äußerungen der Protagonisten auch seine eigenen Gedanken machen, ob das alles wirklich immer so „glücklich“ war, wie es zunächst einmal klingt. Zumal diese Seite der Geschichte auch nicht das Thema dieser Dokumentation ist und es viele andere gibt, die genau diesen Teil (und oftmals nur diesen) deutlich beleuchten.

Für seine Doku hat Christian viele interessante Interviewpartner vor die Kamera geholt, die unglaubliche Geschichten erzählen. Man kann teilweise kaum glauben, was man da hört und wie es damals in den 70er-Jahren in der Industrie abgegangen sein soll. Sehr positiv fällt auf, dass sich der Filmemacher stark zurücknimmt und keine aktive Rolle im Film einnimmt. Er kommentiert auch nicht, sondern lässt die Bilder und Worte für sich stehen. Nur einmal ist er zu sehen, als er bei einem Interview mit Ziehm in einer Radiostation neben ihm auf dem Sofa sitzt und von dem Radiomoderator auch ein, zwei Fragen gestellt bekommt.

Ebenfalls erwähnenswert ist, dass die Hauptfigur nicht als Held dargestellt wird, sondern als jemand, der mit Leidenschaft in die Industrie hineinstolperte und sich dann dort eingerichtet hat. Spannend und ein wenig ambivalent wird es, wenn es um den Film „Flesh Gordon“ geht, bei dem Ziehm ursprünglich nur produzierte, dann aber den ursprünglichen Regisseur Michael Benveniste feuerte und den Film selbst zu Ende brachte. Benveniste beging dann später Selbstmord. Christian führt ein Interview mit dessen Witwe und dessen bestem Freund, welches einen stark schlucken lässt und bei dem Ziehm auch nicht gut wegkommt.

„Finding Planet Porno“ wurde über viele Jahre hinweg gedreht und musste ohne große Förderung mit kleinem Budget, welches u. a. mittels Crowdfunding bewerkstelligt wurde, auskommen. Und es ist gut, dass nicht auf eine bessere Förderung oder ein größeres Budget gewartet wurde, denn scheinbar war dies wirklich der letzte Zeitpunkt, um sich die Geschichte(n) erzählen zu lassen. Der Abspann verrät, dass viele der Interviewpartner, ebenso wie Ziehm selber, in der Zwischenzeit verstorben sind. Somit wird ein Film wie „Finding Planet Porno“ in Zukunft nur noch schwer möglich sein, und darum ist es gut, dass es ihn gibt.

Da der fast zweistündige Film, wie gesagt, in der Mitternachtsschiene lief, dann auch mit etwas Verspätung anfing UND ein interessantes Q&A hatte, war es sehr, sehr spät geworden. Gerne hätte ich noch etwas mehr mit Christian geschnackt, doch der wurde von einem älteren Herrn derart in Beschlag genommen, dass es kein Durchkommen gab. Also verabschiedete ich mich nur und fuhr dann durch die Nacht nach Hause, wo ich irgendwann nach 3:00 Uhr morgens völlig fertig ins Bett fiel.

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