Obwohl ich das Internationale Filmfest Oldenburg nun bereits seit 16 Jahren jedes Jahr besuche, war ich noch nie vier Tage am Stück dabei. In den ersten Jahren waren es immer zwei Tage, ab 2017 waren es dann immer drei. Dieses Jahr gönnte ich mir also auch den Donnerstag. Hauptgrund war, dass ich unbedingt sowohl „The Silent Sinner“ als auch „Summer Hit Machine“ sehen wollte – und das hätte sonst nicht geklappt. So fuhr ich nach der Arbeit nach Oldenburg, wo ich ganz entspannt meine Akkreditierung und meine Tickets abholen konnte. Und dieses Jahr bekam ich tatsächlich wieder Karten für alle Wunschfilme. Nach einer kleinen Stärkung traf ich mich mit meinem Weird-Xperience-Kollegen Stefan, der schon ein paar Stunden früher angereist war und bereits einen Film hinter sich hatte.
Im Theaterhof schauten wir uns gemeinsam einen der Filme an, auf die ich am meisten hingefiebert hatte: „The Silent Sinner“.
Aber bevor es mit dem Hauptfilm losging, gab es erst einmal einen Vorfilm aus Großbritannien. „One Night Stand“ handelt von der Macht (und deren Missbrauch), die Schauspiellehrerinnen über ihre Schülerinnen haben und ausüben. Hier sollen die ohnehin verunsicherten Schauspielerinnen vor der Kamera während eines Workshops eine Situation nach einem „One Night Stand“ improvisieren. Dabei brechen die Emotionen aus und die Frau übersteht die Situation nicht ohne starke seelische Belastung. Das ist schon sehr unangenehm. Wobei die Übergriffigkeit des Lehrers für meinen Geschmack zu zweideutig bleibt. Man könnte sie sogar als „effektiv“ ansehen, was sicherlich nicht im Interesse der Filmemacher sein dürfte. Zwiespältig.
„The Silent Sinner“ handelt von einem Pärchen, das in Krakau die schöne Frau als Lockvogel einsetzt, die in Bars Männer aufreißt und sie mit nach Hause nimmt – wo sie dann von dem Mann umgebracht werden. Dazwischen träumen sie sich ans Mittelmeer oder vertreiben sich die Zeit mit dem Erraten von Film-Scharaden. Das klingt aufregender, als es ist. Die Mordszenen sollen transgressiv sein, wirken aber eher amateurhaft und gewollt „schockierend“, was sie aber nicht wirklich sind. Überhaupt wirkt der Film wie eine Parodie auf „Kunstfilme“. Regisseur Guillaume Campanacci erzählte in der Q&A, dass er nur gedreht habe, weil er mal wieder Lust auf einen Langfilm hatte, den er gerne in Oldenburg zeigen wollte. Man habe den Film dann spontan zu dritt (mit ihm selbst in der Doppelrolle als Regisseur und Hauptdarsteller, seiner Freundin Madeleine Skrzynecka als weibliche Hauptrolle und einem Kameramann) gefilmt. Dabei gab es kein richtiges Drehbuch und man habe sich auf den Instinkt verlassen. Da Madeleine Skrzynecka keine Schauspielerin ist (was man gerade in den Mordszenen deutlich merkt), habe er ihre Rolle als die einer Taubstummen angelegt. Immer wieder werden viele Filme direkt oder indirekt zitiert oder Filmtitel gedroppt. Das wirkt dann ein wenig angestrengt und zu gewollt clever. Generell wirkt der Film, als wolle er zu viel – oder zu wenig. Die permanente Musik ist sehr, sehr laut. Die Szenen passen oftmals nicht zusammen oder man weiß nicht genau, wie sie zusammengehören sollen. Gerade die Szenen, welche am Mittelmeer gedreht wurden und scheinbar Wunschvorstellungen der Protagonisten darstellen sollen, sind komplett drüber. Spätestens wenn in einem Rückzugsort in einer Turmruine am Strand überall Philosophie-Bücher herumliegen oder es Szenen einer Geburt oder der Hauptdarstellerin gibt, die im Nonnenkostüm ins Wasser geht, fühlt man sich wie in einer Persiflage auf Godard. Auch lässt der Film offen, ob das nicht alles nur eine Fantasie ist, die sich die beiden Protagonisten zusammenträumen. Unangenehm wird es trotzdem in jenen Szenen, in denen Campanacci offenbar Altherrenfantasien auslebt. Zum Beispiel, wenn die Frau am Strand Stöckchen holen muss oder den Herrn anschmachtet. Leider wirkt dies, wie so vieles in dem Film, sehr selbstverliebt. Vielleicht ist es aber auch Absicht, was dann wieder für den parodistischen Ansatz bezogen auf die Bauchnabelfilme aus dem Kunstkino der 60er und 70er spräche. Man muss Guillaume Campanacci allerdings zugestehen, dass er sein Ding kompromisslos durchzieht. Trotzdem bleibt das Gefühl, dass das Filmteam sehr viel mehr Spaß beim Drehen hatte als das Publikum beim Zuschauen. Zumindest erging es mir so. Schade. Vielleicht war aber auch meine Erwartung eine andere.
Auch beim nächsten Film, der dann im cineK Studio lief, gab es wieder einen Vorfilm. „Rock, Paper, Scissors“ passte zum Hauptfilm und stimmte das Publikum gut ein. Dieser ukrainische Film handelt von einem sehr jungen Mann, der sich mit seiner Familie und weiteren Ukrainerinnen in einem Bunker vor den Russen versteckt. Als diese näherkommen, beschließt er, sie auf eigene Faust vom Bunker abzulenken. Der Kurzfilm ist sehr nahe an seinen Figuren dran, für die man schnell Sympathie empfindet. Dabei ist er auch ausgesprochen gut gefilmt und nimmt einen mit in eine schier ausweglose Situation, die mit einem kräftigen Schlag in den Magen endet. Den Regisseur sollte man auf jeden Fall im Auge behalten, ebenso den überzeugenden Hauptdarsteller Oleksandr Rudynskyi. Scheinbar handelt es sich um eine wahre Geschichte, die das Vorbild für den jungen Mann dem Regisseur Franz Böhm erzählt hat. Wenn im Abspann steht, dass sich dieser nach den traumatisierenden Ereignissen freiwillig zu den Streitkräften gemeldet hat und später im Kampfeinsatz mit 18 Jahren erschossen wurde, hat man Tränen in den Augen.
Der Hauptfilm war dann der argentinische Film „Gunman“, dessen Regisseur auch anwesend war.
„Gunman“ ist ein extrem dynamischer Film, der häufig an Videospiele erinnert. Einerseits, weil man das Geschehen überwiegend aus der Perspektive des Protagonisten Pablo sieht (dessen Gangart mich in einigen Szenen auch an die einer Computerspielfigur erinnerte), aber auch, weil der Film (scheinbar, der Regisseur verriet, dass da etwas geflunkert wurde) in einem Take gedreht wurde. Der grandiose Hauptdarsteller Sergio Podeley ist somit in fast allen Szenen im Mittelpunkt; nur einmal verliert ihn die Kamera für eine etwas längere Zeit aus den Augen und konzentriert sich stattdessen auf eine Gruppe Vigilanten, die beschließt, gegen die schießwütigen Gangs vorzugehen. Der „Gunman“ erinnert an Mario Adorf als Luca Canali in „Der Mafiaboss“. Wie dieser ist Pablo ein kleines Rad im Mafiagetriebe, das zum Sündenbock gemacht wird und nicht weiß, wie ihm geschieht und weshalb plötzlich alle hinter ihm her sind. Beide sind immer am Limit und scheinen irgendwann förmlich zu explodieren. In anderen Filmen wäre Pablo nur eine kleine Randfigur. Doch hier wird der Plot aus der Sicht eben dieser gezeigt. „Gunman“ lässt einen mit seinem hohen Tempo und den vielen Plot-Twists vollkommen atemlos zurück. Mit 80 Minuten hat er auch genau die richtige Länge.
Der sehr sympathische Regisseur Cristian Tapia Marchiori erzählte in der Q&A, dass es in dem ganzen Film gerade mal vier Schnitte gebe und er den Film in drei Tagen gedreht hätte – und zwar in einem Vorort von Buenos Aires, wo tatsächlich Gangs gewaltsam über das gesamte Gebiet herrschen. Er konnte sich mit den Gangs aber arrangieren. Und die Allgegenwart der realen Gangs verleiht „Gunman“ eine beklemmende Authentizität. Einige der Gangmitglieder spielen auch im Film mit. „Gunman“ war in Argentinien in den Kinos ungeheuer erfolgreich und hat auch schon Streaming-Verträge. Die sehr lange Q&A war einmal mehr ein Beweis für die spezielle Atmosphäre und Gemeinschaft in Oldenburg. Da Marchiori nicht gut Englisch sprach, sprang kurzerhand J. Xavier Velasco, der mexikanische Regisseur des Films „Crocodiles“, der zuvor gelaufen war, als Dolmetscher ein – und machte seine Sache ausgezeichnet.
Nach dem Film sprangen Stefan und ich schnell in mein Auto, denn es war schon spät geworden und ich musste am nächsten Tag erst noch wieder arbeiten.