Bericht vom 32. Internationalen Filmfest Oldenburg – Tag 4

Und nun der letzte Tag in Oldenburg, den ich dann wieder allein bestritt.

Ich hatte lange überlegt, wie ich den Tag programmtechnisch gestalten sollte, da ich sehr gerne „Wolfen“ gesehen hätte. Allerdings wusste ich nicht, ob Regisseur Michael Wadleigh anwesend sein würde. Letztendlich entschied ich mich dann für „Crazy Love“, was vor allem logistischen Überlegungen geschuldet war. Der erste Film, den ich sehen wollte, lief nämlich im vielleicht schönsten Festivalkino, dem Casablanca.

Während Theaterhof und cineK quasi gegenüber in derselben Straße liegen, muss man zum Casablanca einen – im Vergleich zu anderen Festivals zugegebenermaßen kleinen – Weg in Kauf nehmen. Daher war ich mir nicht sicher, ob ich es nach dem ersten Film überhaupt rechtzeitig ins cineK schaffen würde. Wahrscheinlich hätte ich es nicht. So blieb ich stattdessen für einen zweiten Film im Casablanca. Auch wenn ich mit dem Herzen gerne „Wolfen“ gesehen hätte, war es im Nachhinein die richtige Entscheidung, um den Stresslevel niedrig zu halten.

Der Film „The Girl in the Snow“ der französischen Regisseurin Louise Hémon ist ein sehr ruhig erzählter Film, der im Nachhinein noch wächst. Hémon gelingt das Paradox, einerseits beeindruckende Naturaufnahmen der Berglandschaft in Südfrankreich zu schaffen, andererseits durch die Entscheidung für das 4:3-Format die hohen Gebirge und die Natur klaustrophobisch wirken zu lassen. Die gewaltigen Berge scheinen direkt auf die Protagonisten des Films zu drücken und ihnen den Lebensraum zu beschneiden. Der kleine, winterliche Flecken, weit abgelegen von jeder Zivilisation, wird so zu einem Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gibt. Lediglich die Fantasie und Poesie können eine kleine Flucht aus der kargen, menschenfeindlichen Gegend ermöglichen. Doch dies wird von der Gemeinschaft – gerade von den Alten – skeptisch beäugt.

Die Geschichte spielt im Winter 1899. Während der kalten Tage ziehen die Frauen eines kleinen Bergdorfes hinunter ins Tal, um als Bedienstete der Reichen zu arbeiten. Die Alten, die Männer und die Kinder bleiben zurück. Um letztere soll sich die junge Lehrerin Aimée Lazare kümmern, die dafür aus der Stadt gekommen ist. Doch Aimée kommt mit den verschlossenen Menschen, ihren archaischen Riten, ihren Gebräuchen und ihrer Sprache (die Alten sprechen ein altertümliches Französisch, das Aimée nicht versteht) nicht zurecht. Als sie zwei Kinder badet, wird sie angegangen, da die „Dreckkruste doch das Gehirn schützt“. Ein andermal wird ihr Notizbuch entrissen und ins Feuer geworfen, da sie darin die gehörten Geschichten aufgeschrieben und diese – laut den Alten – damit gestohlen und getötet habe. So bekommt sie keinen Zugang zur Dorfgemeinschaft und wird von dieser ausgeschlossen. Doch an dem abgelegenen Ort, an dem Aimée die einzige junge Frau ist und auch sexuelle Bedürfnisse hat, kommt es bald zu ersten intimen Kontakten zwischen ihr und den Männern.

In Besprechungen des Films fällt immer wieder das Wort „Folk-Horror“, was nicht unangebracht ist, werden doch typische Themen des Genres bedient: Die Abgeschiedenheit und die Ankunft eines „aufgeklärten Menschen“, der mit alten Riten und Glaubenssätzen konfrontiert wird. Ja, sogar das Übernatürliche hat hier seinen Platz, auch wenn es fraglich ist, ob die uralte Geschichte von dem männermordenden Geist, welche sich die alten Frauen erzählen, nur eine Geschichte ist oder tatsächlich mit Aimée in Verbindung steht. Generell werden immer wieder alte Volksmärchen in die Handlung überführt.

Galatéa Bellugi spielt die Aimée hervorragend und zeichnet in Gesicht und Gestalt die Verwandlung von einer gesunden, engagierten jungen Frau zu einer kränklichen, geisterhaften Person nach. Auch die Musik weiß zu gefallen und die Geschichte zu unterstreichen. Diese erinnert wahrscheinlich nicht zufällig an Ennio Morricone, der mit „Leichen pflastern seinen Weg“ selbst einmal einen düsteren Schneefilm vertont hat. Der einzige Vorwurf, den man Louise Hémon machen könnte, ist, dass sie ein perfektes, niederschmetterndes Schlussbild gefunden hat, das einem noch lange im Kopf herumgehen würde – ginge der Film nicht noch ein paar Minuten weiter und hätte sich Hémon nicht für eine andere Auflösung entschieden. Diese funktioniert zwar auch, nimmt dem Film aber die gewaltige emotionale Wirkung, die er gehabt hätte, wäre er etwas früher zu Ende gewesen.

Danach blieb ich also im Casablanca, wo es fast nahtlos mit dem nächsten Film weiterging.

Bei „Crazy Love“ hatte ich eine durchgedrehte Komödie erwartet. Laut Regisseur Jason Byrne war der Film im Q&A auch ursprünglich als solche geplant. Nach dem ersten Drehbuchentwurf habe man aber bemerkt, dass die Geschichte mehr beinhaltet. Am Ende ist der ganze Film dann im Schnitt entstanden, den der Regisseur zusammen mit dem Kameramann Kevin Treacy vorgenommen hat. Deshalb wird Treacy nun auch als Co-Regisseur genannt und hat einen Co-Autoren-Credit bekommen.

„Crazy Love“ handelt von Clayton, einem Mann mit suizidalen Tendenzen, der sich nach einem gescheiterten Selbstmordversuch selbst in eine Klinik einweist. Dort lernt er neben einigen skurrilen Mitpatienten auch Anna, eine schizophrene Frau, kennen und lieben. Schnell wird ihm klargemacht, dass Anna die Klinik aufgrund ihrer unheilbaren Krankheit nicht verlassen kann und ihre Liebe somit keine Chance hat. Doch damit will sich Clayton nicht abfinden.

Eine gewisse Traurigkeit durchzieht den ganzen Film, denn beide Protagonisten sind sich ihrer mentalen Probleme und der daraus resultierenden Konsequenzen durchaus bewusst. Wer also eine Komödie erwartet, dürfte enttäuscht sein, obwohl der Film natürlich auch humoristische Momente hat. Hierfür sind insbesondere Claytons Mitpatienten zuständig. Gerade diese Szenen führen noch einmal das ursprüngliche Konzept des Films vor Augen, welches zugunsten eines zarten und berührenden Liebesfilms aufgegeben wurde.

Trotz der unkonventionellen Produktionsgeschichte gelingt dem Duo Byrne & Treacy ein überzeugender Film. Hierzu trägt neben einem effektiven Sounddesign, bei dem immer wieder bedrohliche Geräusche zu hören sind, vor allem die Leistung der beiden Hauptdarsteller bei. John Connor als Clayton erinnert von Sprache und Ausdruck sowohl an Ricky Gervais als auch an Benny Hill, was eine interessante Mischung ergibt. Connor erhielt in Oldenburg zu Recht den Preis als bester Darsteller (er war dann leider nicht beim Q&A zugegen – wahrscheinlich, weil er gerade auf dem Weg zur Preisverleihung war). Seine Partnerin Jade Jordan ist ein Naturtalent, das alle Facetten ihrer vielschichtigen Figur beherrscht und das man – wie Clayton es auch tut – gerne ins Herz schließt. Gewürzt wird dies alles noch durch eine gehörige Portion Kritik an einem Gesundheitssystem, in dem Menschen nur geholfen wird, wenn sie es auch bezahlen können, und bei dem nicht die Interessen der Hilfesuchenden im Vordergrund stehen, sondern die der kapitalistischen Stakeholder.

Die Crew des Films war in großer Zahl (minus Hauptdarsteller) zum Q&A erschienen und erzählte ungezwungen und charmant von den doch eher unkonventionellen Dreharbeiten.

Leider waren das dann auch die einzigen Gäste an diesem Tag, denn J. Xavier Velasco, der Regisseur von „Crocodiles“, war – im Gegensatz zum ersten Screening am Donnerstag – nicht mehr anwesend. Schade, denn von meinem Kollegen Stefan wußte ich, dass Velasco sehr viele spannende und hochinteressante Geschichten zu erzählen gehabt hätte.

Das cineK Studio war für einen Sonntagabend auch noch überraschend gut besucht.

Im Film wird über die Crocodiles im Titel erzählt, dass die Bandenchefs sie sich halten und zum Spaß unliebsame Menschen lebendig an sie verfüttern. Diese Geschichte gibt den Ton für diesen Magenschwinger vor. Obwohl man die Bandenchefs nie zu Gesicht bekommt, schwebt ihr finsterer Schatten über allem und jedem. In Mexiko starben seit 2000 über 140 investigative Journalisten, was Mexiko zu einem der gefährlichsten Länder für Reporter macht. Viele dieser Verbrechen fanden in Xalapa statt, dem Handlungsort dieses Films.

Als die Journalistin Amanda zusammen mit ihrer kleinen Tochter brutal in ihrer Wohnung abgeschlachtet wird, macht sich der junge Fotoreporter Santiago daran, die Hintergründe der Tat und die Korruption innerhalb der Behörden aufzudecken.

So kennt man das auch von vielen US-Filmen. Doch im Gegensatz zu den heroischen Reportern, die in Hollywood Missstände aufdecken und mit denen wir mitfiebern, möchte man Santiago die ganze Zeit zurufen: Lass es! Denn mit seinen Recherchen bringt er nicht nur sich, sondern auch seine Liebsten in tödliche Gefahr. Die gnadenlose Brutalität der Banden und ihre Vernetzung im System ist in jeder Sekunde dieses Films spürbar. Die Spannung ergibt sich also nicht unbedingt daraus, ob Santiago bis an die Mächte im Hintergrund kommt, sondern ob er und sein geliebtes Umfeld diese Suche überleben. Die permanente Bedrohung drückt einen dabei tief in den Kinositz.

Was Santiago droht, weiß man nicht nur aufgrund der Geschichten um die titelgebenden Krokodile, die ihm ein Zeuge zitternd und unter Tränen erzählt, um dann im Schoß seiner Mutter hemmungslos weinend zusammenzubrechen. Man weiß es nicht nur durch den bestialischen Mord an Amanda und ihrer kleinen Tochter, sondern auch durch eine grandiose und bittere Szene, in der Santiago plötzlich realisiert, dass er auf einem schier endlosen Massengrab steht, und von seinen Emotionen überwältigt wird. Eine besonders erschütternde Nebengeschichte betrifft Santiagos Mutter, die, seitdem ihr Mann (ebenfalls ein Journalist, dem Santiago nacheifern will) spurlos verschwunden ist, scheinbar eine heftige Bakterien-Phobie mit Waschzwang entwickelt hat. Dies macht noch einmal deutlich, dass es hier mehr Opfer gibt, als man auf den ersten Blick sieht. Nicht nur die Toten sind Opfer, sondern auch die Überlebenden.

Dies war ein sehr starker Abschluss eines generell exzellenten Jahrgangs in Oldenburg. Vielleicht sogar einer der besten, an dem ich in den letzten 16 Jahren teilhaben durfte. Danke dafür an alle Beteiligten. Allen voran Festivalleiter Torsten Neumann, der wieder ein ganz besonderes und atmosphärisches Festival auf die Beine gestellt hat. Ich ziehe meinen Hut. Dies tue ich auch vor der gesamten Organisation, die diesmal wirklich wie am Schnürchen funktionierte, den vielen netten und entspannten Mitarbeitern sowie den zahlreichen Filmemacherinnen und -machern, die allesamt höchst informative und sympathische Q&As abhielten. Danke für die gute Zeit mit meinen Mitstreitern, für die großartigen Begegnungen und Gespräche. Es war einfach schön, und ich freue mich schon auf die Ausgabe 33!

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