Der dritte Tag auf dem 32. Internationalen Filmfest Oldenburg zeichnete sich nicht nur durch großartige Filme aus, sondern auch durch ein sehr angenehmes Miteinander jenseits der Vorführungen.
Es gab schöne Treffen, nette Gespräche und gemeinsame Erlebnisse. Nachdem ich in den letzten Jahren häufig allein unterwegs war, wusste ich diese Begegnungen einmal mehr sehr zu schätzen.
Los ging der Tag im cineK Muvi, das wir als Trio besuchten, was schon seit Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen war.
Der amerikanische Film „Keep Quiet“ des Regisseurs Vincent Grashaw erfüllt zunächst alle Standardvorgaben eines Cop-Thrillers. Auf der einen Seite steht der alte Veteran, auf der anderen der junge Rookie, der noch viel zu lernen hat. Dieser alte Cop, Teddy Sharpe, der eine schwere Schuld mit sich herumschleppt, wird hervorragend von Lou Diamond Phillips gespielt. Der von Dana Namerode zunächst sehr zurückhaltend gespielte Rookie Sandra Scala hat die altbekannte Funktion, den Zuschauer in die Welt einzuführen, in der Teddy lebt. Dies ist sehr spannend, denn es werden interessante Einblicke in das Leben der indigenen Stämme in den Reservaten gezeigt. Wenn man sich mit diesen speziellen Gegebenheiten nicht besonders gut auskennt, was auf viele Europäer zutreffen dürfte, muss man sich am Anfang des Films einiges selbst erarbeiten. So wird nicht darauf eingegangen, was die Tribal Police ist und inwieweit sie sich in ihren Zuständigkeiten von der normalen Polizei unterscheidet. Viele Informationen über die Lebensumstände und die Beziehungen untereinander werden über Dialoge transportiert, die nicht immer gut verständlich sind – sei es aufgrund der Aussprache oder der vielen Abkürzungen und Slangwörter. Hier wären Untertitel empfehlenswert gewesen.
Doch bald schon taucht man tief in diese fremde Welt ein und erfährt eine Menge über sie. Eingebettet ist dies in eine Geschichte um alte Sünden und Traumata. So versucht Teddy noch immer, eine alte Schuld zu begleichen und versteht die seelischen Wunden der Menschen in der kleinen Stadt. Er versucht tatsächlich, sie zu schützen und damit einen Moment wiedergutzumachen, in dem er es nicht konnte.
Auch der Antagonist Richie Blacklance schleppt dieses Päckchen mit sich herum. Und so skrupellos und brutal seine Aktionen auch sind, er ist nicht das eindimensionale Böse, sondern ebenso von Dämonen gequält wie die anderen Charaktere. Der eher unbekannte Elisha Pratt spielt Richie ausgezeichnet. Er ist nicht nur sehr charismatisch und bedrohlich, sondern auch ein zutiefst verletzter Mensch. Darin liegt auch die Kernaussage des Films: Man erfährt durch die Hintergrundgeschichte, wie die jungen Leute zu dem geworden sind, was sie sind. Die Botschaft lautet: Es ist wichtig zu verstehen, warum sich jemand so verhält, wie er es tut, denn nur so können Veränderungen herbeigeführt werden. Neben dieser humanistischen Seite funktioniert „Keep Quiet“ aber auch hervorragend als finsterer und spannender Thriller, dessen Actionszenen selten, aber nachdrücklich sind.
Danach ließ ich das Gesehene erst einmal sacken und ging rüber zum Theaterhof, wo ein Film lief, den ich im Vorfeld als eines der Highlights eingestuft hatte. Anscheinend ging es anderen auch so, denn der Theaterhof war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Hier trafen wir auf weitere Bekannte, und einem interessanten Filmbesuch stand nichts mehr im Wege.
Vorweg gab es einen Vorfilm, der das Publikum – welches überraschenderweise aus vielen älteren Herrschaften bestand – nachhaltig verstörte. „Sleeping Beauty“ ist ein sehr professionell und gut gemachter Kurzfilm, anscheinend Teil einer Serie (?). Allerdings wirkt die Geschichte um einen jungen Mann, der im kolonialen Thailand eine scheinbar schlafende oder tote Schönheit findet und diese entgegen jedem Rat mit nach Hause nimmt, auch bemüht. Trotz des interessanten Themas schafft der Film es nicht, eine wirklich großartige Atmosphäre zu erzeugen. Das Publikum war spätestens bei einer Gore-Szene hörbar geschockt.
„Good Boy“ lief schon auf einigen Genre-Festivals und kam dort immer gut an. In Oldenburg war das Publikum anscheinend nicht mit der Handlung des Films vertraut. Vermutlich hatten sich viele nur oberflächlich informiert und einen schönen Film mit einem süßen Hund erwartet. Anders kann ich es mir nicht erklären, weshalb während der Vorstellung 22 Personen (mein Sitznachbar hatte mitgezählt) den Saal verließen – dies gerne auch lautstark und direkt vor der Leinwand entlanglaufend. Dadurch wurde man immer wieder aus dem Film gerissen, was sehr schade ist, denn dieser lebt gerade von seiner dichten, bedrohlichen und mysteriösen Atmosphäre.
Man muss aber auch sagen, dass die Inhaltsangabe einen nicht unbedingt darauf stößt, dass es sich hier um einen waschechten Gruselfilm handelt. Zitat: „Eine unerwartete Diagnose beim Arzt wirft Todd völlig aus der Bahn. Zusammen mit seinem Hund Indy zieht er sich zur Selbstfindung in das alte Haus seines Großvaters zurück, obwohl ihn seine Schwester vor den kursierenden Spukgerüchten warnt. Fernab der Stadt spürt Indy schon bald, dass hier einiges nicht mit rechten Dingen zugeht. Wenn er doch nur sein Herrchen warnen könnte. […] Über drei Jahre brauchte Regisseur Ben Leonberg, um seinen eigenen Hund zum charismatischen Hauptdarsteller dieses einzigartigen Films zu machen. Über den gesamten Film bleibt die Kamera der Perspektive des unwiderstehlichen Vierbeiners treu und rückt menschliche Akteure nur selten ins direkte Blickfeld. So erwächst aus dem Experiment nicht nur eine exzellent verdichtete Bedrohung, sondern ein makelloses Lehrstück in Sachen Suspense. Indys Versuche, sein Herrchen zu beschützen, sind das Aufregendste und Emotionalste, was uns das Kino seit Langem beschert hat.“
Tatsächlich spielt der Film folgendes Gedankenspiel durch: Man sagt Hunden nach, sie hätten ein besonderes Gespür für Gefahren. Können sie dann auch den kommenden Tod spüren? Und wie sähe das aus ihrer Sicht aus? Dies wird mit klassischen Horror- und Gruselfilmelementen gezeigt: mit Jump-Scares, unheimlichen Schatten, Geräuschen und Geistern. Das ist ebenso gut gemacht wie altbekannt. Dies aber komplett aus der Sicht eines Hundes zu zeigen, ist eine neue, innovative und effektive Idee. Man schlüpft in die Rolle eines Hundes, der seinem Herrchen beim Sterben zusieht und nicht versteht, was da vor sich geht. Dessen Sinne ihm möglicherweise mehr zeigen, als ein Mensch sehen könnte. Was mich ein wenig ablenkte, war die Frage, ob da ein echter Hund (so wird es behauptet, und das wäre in der Tat unglaublich) oder eine brillante CGI-Kreation auf der Leinwand zu sehen war. Schade, dass Regisseur Ben Leonberg nicht mit Indy zugegen war, um dies aufzuklären.
Zum letzten Film blieben wir gleich im Theaterhof, wo noch einmal ein echter Höhepunkt wartete.
„The Innocents“ ist ein peruanischer Spielfilm über eine Gruppe von Jugendlichen aus der Unterschicht, die sich in Lima mit Kleinkriminalität und Musik durchschlagen, während sie auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität, der ersten Liebe und ihrem Platz im Leben sind. Es handelt sich um die Verfilmung eines in Peru sehr bekannten und bedeutenden Romans, den Regisseur Germán Tejada aber nur als Grundgerüst nahm, um den Film mit eigenen Erlebnissen zu füllen. Dies erklärt möglicherweise seine sehr niedrige IMDb-Bewertung von derzeit 4,9. Vielleicht waren die Fans des Buches darüber empört, vielleicht hatten aber auch einige Probleme mit den queeren Themen des Films.
Für mich war „The Innocents“ einer der Höhepunkte des diesjährigen Festival-Jahrgangs. Ebenso verwunderlich wie die Bewertung ist die Tatsache, dass, wie Tejada in der Q&A verriet, die Darstellenden von der Straße gecastet wurden und keinerlei schauspielerische Erfahrung mitbrachten. Das mag man kaum glauben, denn alle sind absolut hervorragend. Insbesondere Hauptdarsteller Diego Cruchaga Ponce de León spielt fantastisch und mit einer enormen Präsenz. Zu seiner genderfluiden, ganz speziellen Aura trug wohl auch bei, dass er sich – wie übrigens auch der Darsteller des Punk-Sängers Johnny – während der Dreharbeiten in einer Transitionsphase befand und heute seine Identität als Frau gefunden hat. Wie de León spielt auch der Darsteller seines Gegenspielers Colorete ganz fantastisch und mit sehr viel Charisma. Hinter dessen brutaler Fassade kommen Schmerz und Verletztheit zum Vorschein. Es geht hier viel um das Austesten von Grenzen, auch um das Überschreiten dieser; um die Suche nach dem Sinn im eigenen Leben und dem Ort, an dem man steht – mal brachial, mal ganz sensibel. Dabei spielen neben Gewalt und Sex auch Musik und Kunst eine Rolle, was sich im Film widerspiegelt, der nicht nur einen tollen Punk-Soundtrack hat, sondern auch Einsprengsel von magischem Realismus beinhaltet. So verwandeln sich immer wieder in traumartigen Szenen Menschen in Zombies, was in den gezeigten Bedrohungs- und Stresssituationen dramaturgisch absolut Sinn ergibt und daher nicht aufgesetzt wirkt.
Zusammenfassend ist „The Innocents“ eine wunderbare Beschreibung des Lebens von Jugendlichen (nicht nur in Lima) in dieser Phase ihres Lebens, in der sie viel ausprobieren, nicht genau wissen, wohin sie gehören, und sich ihre Unsicherheit, aber auch ihre Aufregung sowohl in Kreativität als auch in Gewalt ausdrücken kann. Getragen wird dies durch eine grandiose, dynamische Kameraführung, die an frühe Scorsese-Filme wie „Hexenkessel“ erinnert. Man merkt an keiner Stelle, dass dies der erste Spielfilm des Regisseurs war. Und er macht auch nicht den Fehler vieler Debüts, einfach zu viel zu wollen und sein Werk in die Länge zu ziehen. Im Gegenteil: Er findet das perfekte Schlussbild. Bravo!
So endete ein wirklich toller Tag in Oldenburg, und über die Autobahn ging es mit spannenden Gesprächen zurück nach Bremen.