An Reiner Bollers wundervollem Buch „Wilder Westen made in Germany“ habe ich nur eins auszusetzen: Es ist schuld daran, dass ich in letzter Zeit viel zu wenig Schlaf bekam, weil ich abends immer viel zu lange drin gestöbert habe. Das dicke, 523 Seiten starke Schmökerwerk platzt nur so vor Anekdoten, Produktionsinformationen, Interviews und sonstigen spannenden Fakten. Was Reiner Boller hier an Recherchearbeit geleistet hat, ist einfach unglaublich. Man findet in seinem Buch Produktionsmemos, Briefe, zeitgenössische Berichte/Interviews/Filmkritiken und vieles mehr. Und Boller hat auch immer wieder selber die Protagonisten seines Buches aufgesucht und mit ihnen über jene deutschen Westernfilme gesprochen, in denen sie selber mitgewirkt haben. Die Fülle der Informationen erschlägt einen manchmal fast. Und manche Geschichten, z.B. wie „Winnetou I“ entstanden ist, lesen sich beinahe schon wie kleine Thriller.
Die Karl-May-Filme der 60er Jahre stehen dann natürlich auch im Mittelpunkt des Buches und einige Titel werden teilweise mit über 40 Seiten bedacht. Doch Boller konzentriert sich nicht nur auf diese heute noch sehr populären Filme, sondern nimmt den Titel seines Buches sehr genau. So erfährt man im ersten Kapitel einiges über deutsche Stummfilme mit Wild-West-Thematik, später wird auf Trenkers „Der Kaiser von Kalifornien“ ebenso eingegangen, wie auf die Hans-Albers-Filme „Sergeant Barry“ und „Wasser fürCanitoga“. Und immer weiß Boller viele Interessante Geschichten von den Dreharbeiten, den beteiligten Personen oder den Umständen der Produktion zu berichten.
Während der „Karl-May-Welle“ versuchten sich auch andere Produzenten an den Erfolg des Western-Genres zu hängen und heuerten Leute wie Rolf Olsen oder Jürgen Roland an, um diese Filme teilweise in denselben Kulissen wie die Karl-May-Filme zu drehen. Jugoslawien wurde für die deutschen Western-Produktionen auch jenseits von „Winnetou“ & Co. das, was Almeria für die Italiener war. Apropos Italiener. Boller widmet sich auch ausführlich all jenen Italo-Western, bei denen deutsche Produzenten ihre Hand bzw. ihr Geld im Spiel hatten. Eine Tradition, die mit „Für eine Handvoll Dollar“ erfolgreich begann.
Neben den „reinen“ Western wagt Boller auch einen Blick nach links und rechts des Kriegspfades. So gehören für ihn die Mexiko-Abenteuer nach Karl May, mit denen der große Konkurrent des „Winnetou“-Produzenten Wendland, Artur Brauner, versuchte eine dicke Scheibe vom Karl-May-Kuchens abzuschneiden. Aber auch die Alaska-Abenteuer nach Jack London oder Südamerika-Filme wie Werner Herzogs grandioser „Aguirre – der Zorn Gottes“ oder „Cobra Verde“.
Natürlich wird das in den 70er Jahren sehr produktive Westernkino der DEFA mit Gojko Mitić nicht vergessen, sowie die zahlreichen TV-Produktionen bis hin zu „Winnetou – Der Mythos lebt“, jener RTL-Dreiteiler, der Weihnachten 2017 über den Bildschirm flackerte. Und auch „Doc Snyder“ taucht auf, wenn auch sehr zum Verdruss von Reiner Boller, der diesem Film – im Gegensatz zum „Schuh des Manitu“ – so gar nichts abgewinnen kann.
Die 110 hier versammelten Film werden in der Regel in folgenden Abschnitten vorgestellt: Story, Entstehung und Dreharbeiten, Western-Fazit, Zitate aus zeitgenössischen Kritiken. Manchmal etwas mehr, wie bei den ersten Karl-May-Filmen, manchmal etwas weniger, wie bei den meisten italienisch-deutschen Co-Produktionen. Darüber hinaus gibt es unter der Überschrift „Namen im deutschen Western“ noch 48 Porträts, die von natürlich Lex Barker und Pierre Brice, aber auch Horts Wendland, Harald Reinl oder Martin Böttcher hin zu Leuten wie Brad Harris und Marisa Mell oder beliebten Nebendarstellern wie Walter Barnes reichen.
„Western made in Germany“ ist in tolles, unglaublich detailliert recherchiertes und dabei sehr unterhaltsames, ja teilweise sogar ausgesprochen spannendes Buch über ein Thema von dem man dachte, es sei schon sehr viel drüber erzählt worden. Bollers Buch beweist allerdings, dass dies nicht stimmt. Ein Standardwerk, welches sich jeder Filminteressierte (ob nun Westernfan oder nicht) ins Filmbuchregal stellen sollte. Nur sollte man eben darauf achten, nicht abends noch mit dem Schmökern anzufangen, wenn man morgens früh raus muss.
Reiner Boller „Wilder Westen made in Germany“, Mühlbeyer Filmbuchverlag, 523 Seiten, € 29,90