Mein dritter Tag bei den 52. Nordischen Filmtagen begann recht spät. Nachdem ich bereits ein arbeitsreiche Woche und den wenigen Schlaf der letzten beiden Nächte in den Knochen hatte, legte ich erst einmal eine Kinopause ein. Diese nutzte ich dann, um bei mittlerweile bestem Wetter mit meiner Frau noch ein wenig durch Lübeck zu streifen und einen halbwegs „echten“ Urlaubstag zu genießen. Allerdings nur bis zum späten Nachmittag. Da zog es mich dann auch schon wieder mit Macht in den dunklen Kinosaal zurück.
Als ersten Film des Tages hatte ich mir den finnischen Film „Lappland-Odyssee“ ausgesucht. Obwohl ich wieder einmal eine dreiviertel Stunde vor Filmbeginn da war, konnte ich mich nur ans Ende einer bereits recht langen Schlange von Wartenden einreihen. Trotzdem war ich guter Hoffnung, denn vor mir sah ich relativ wenige Besucher mit dem beinahe schon obligatorischen blauen Bändchen um den Hals, von dem ein Festivalausweis baumelte. Und ich sollte recht behalten. Diesmal gab es keine Probleme ins Kino zu kommen.
Vorweg gab es aber noch den Kurzfilm „Mein Vater aus Pappe“, der leider nicht in der IMDb eingetragen ist. Schade, denn der Film ist wirklich gut. Hier muss sich der neue Freund der Mutter gegen den Vater ihres 8-jährigen Sohnes durchsetzen. Dumm nur, dass dieser nicht aus Fleisch und Blut ist, sondern ein mannshoher Supermann-Pappaufsteller. Natürlich wird alles gut, aber der Weg zum Happy End ist sehr humorvoll und voller Herzenswärme.
Vor dem Hauptfilm waren dann noch der Regisseur Dome Karukoski, sowie seine drei Hauptdarsteller Jussi Vatanen, Jasper Pääkkönen und Timo Lavikainen zu Gast. Wie immer wurden amüsanten Anekdoten erzählt und die vier kamen sympathisch rüber. Lediglich Timo Lavikainen lies so ein wenig zu sehr die coole Sau raushängen. Aber gut, das passt ja auch zu seiner Rolle im Film.
„Lappland Odyssee“ (Napapiirin sankarit) ist eine finnische Komödie um drei Freunde, die nicht besonders viel Antriebskraft aufbringen und sich ohne große Anstrengungen durchs Leben treiben lassen. Einer von Ihnen muss allerdings seine totale Passivität aufgeben, als ihn seine Freundin bittet, einen Digital Decoder zu besorgen. Natürlich trödelt er so lange mit seinen Kumpels in einer Kneipe herum, bis ihm selbst dieses simple Vorhaben misslingt. Nun stellt ihn seine Freundin vor die Wahl: Entweder er besorgt ihr bis zum nächsten Morgen einen Decoder oder sie zieht auf nimmer Wiedersehen aus. Die drei Hänger machen sich auf den abenteuerlichen Weg durch die kalte, finnische Nacht und begannen unterwegs waschechten Sirenen und andere homerische Misslichkeiten.
Der Film macht einfach Spaß. Er beginnt zwar recht langsam, steigert sich dann aber zusehends und irgendwann hat man seine drei „Helden“ einfach ins Herz geschlossen. Nette Einfälle, gute Hauptdarsteller und eine solide Regie machen „Lappland Odyssee“ zu einem unterhaltsamen Komödie, bei der aber auch immer wieder die typisch finnische Melancholie durchklingt. Ein perfekter Auftakt für den dritten Kinotag.
Danach hoffte ich, nun auch endlich einmal gemeinsam mit meiner Frau eine Vorstellung besuchen zu können. Dazu hatten wir uns die deutsch-österreichisch-estnische Produktion „Poll“ auserkoren, die im Kolloseum lief. Da das Kolloseum über so viele Sitzplätze verfügt, dass selbst bei Stellan Starsgards Besuch am Vortag noch einige wenige Stühle frei blieben, hatte ich die große Hoffnung, dass es diesmal klappen könnte. Zumal deutsche Filme beim (deutschen) Festivalpublikum eh nicht hoch im Kurs stehen (wenn der Regisseur nicht gerade Fatih Akin heißt). Und so war es dann auch. Als wir im Kolosseum ankamen, stand gerade einmal eine Handvoll Leute vor der Kasse. Allerdings war der Kinobesuch trotzdem kurzfristig gefährdet. Nicht, weil die Vorstellung ausverkauft gewesen wäre. Nein, der Kassen-Laptop war abgestürzt und das arme Mädchen an der Kasse versuchte gerade verzweifelt, dass Ticket-Programm wieder zum Laufen zu bekommen. Leider ohne großen Erfolg. Sie entschied sich dann für eine pragmatische Lösung und beschrieb die Blanko-Tickets per Hand. Die mittlerweile doch etwas längere Schlange vor der Kassenhäuschen wird es ihr gedankt haben. Und so konnten meine Frau und ich endlich auch mal zusammen die Filmtage im Kino genießen.
„Poll“ hat mich positiv überrascht. Irgendwo hatte ich schon einmal eine begeisterte Kritik gelesen, woraufhin ich erst auf diesen Titel aufmerksam geworden war. Der Kritiker verglich den Film, wenn ich mich echt entsinne, mit „Vom Winde verweht“, was natürlich purer Blödsinn wäre. Eher schon erinnerte mich der Film von der Stimmung her an „Die Blechtrommel“, wobei der Vergleich natürlich auch gewaltig hinkt. „Poll“ basiert auf einer wahren Geschichte und handelt von der 14-jährigen Oda (im wahren Leben eine Großtante des Regisseurs Chris Kraus („Vier Minuten“)), die im Sommer 1914 die Leiche ihrer Mutter in deren Heimat in Estland überführt. Dort wird sie von ihrem Vater auf dem Gutshof „Poll“ aufgenommen, wo er mit seiner zweiten Frau und deren Kindern aus erster Ehe lebt. Odas Vater ist Wissenschaftler, wird von den Kollegen aber gemieden, seit er Theorien darüber aufgestellt hat, wie man von der Schädelform auf den Charakter eines Menschen schließen kann und er für seine Studien Experimente an Leichen vornimmt. Sein Laboratorium befindet sich in den ehemaligen Pferdestallungen des Guts. Eben dort versteckt Oda eines Tages einen schwer verwundeten, baltischen Anarchisten. Sie pflegt ihn heimlich gesund und verliebt sich in den fremden Mann. Der denkt aber nur an seine Flucht von dem Gut, welches unter den baltischen Widerstandskämpfern bereits einen bösen Ruf hat. Denn hier verschwinden die Leichen ihrer Kameraden.
Es gibt vieles, was man an diesem Film preisen kann. Angefangen mit der wirklich beeindruckenden Kameraarbeit, über die Musik bis hin zu den sehr überzeugenden Leistungen der Schauspieler. Allen voran die Debütantin Paula Beer, die man hoffentlich noch häufiger sehen wird. Ebenfalls fantastisch agiert Edgar Selge als Odas Vater. Wie er es schafft in diesem eigentlich gnadenlosen und finsteren Charakter, auch glaubwürdig Zärtlichkeit und Liebe zuzugestehen, muss man gesehen haben. So sehr man ihn auch fürchten und hassen kann, so spürt man doch auch Mitleid für diesen obsessive Figur, die doch nur das Beste will – aber das Böse tut. Vor allem muss man den Film dafür loben, dass er es wirklich schafft, nach Kino auszusehen und nicht nach dem TV-Spielfilm der Woche. Da verzeiht man auch sehr gerne einige kleine Schwächen. Ich drücke dem Film die Daumen, dass er sein Publikum findet. Einen Verleiher hat er immerhin schon und startet am 3. Februar 2011 bundesweit in den Kinos. Er hätte es verdient.
Danach trennte ich mich wieder für einen Kinofilm von meiner Frau und lief in die „Stadthalle“ zurück, wo ich endlich Christoffer Boes neuen Film „Alles wird gut“ sehen wollte. Christoffer Boes Filme haben bei mir einen sehr hohen Stellenwert. „Offscreen“ hat mich damals völlig aus dem Kinosessel gehauen, „Reconstruction“ und „Allegro“ finde ich beide ganz ausgezeichnet. Natürlich war ich deshalb auf seinen neuen Film mehr als gespannt. In Warschau hatte ich ihn schon einmal verpasst und auch in Lübeck konnte ich aus „Planungsgründen“ nicht in die Vorstellung am Freitag gehen. Ich war also etwas nervös, dass ich auch wirklich ein Plätzchen ergattern würde. Aber das war unbegründet. Obwohl gut ausgebucht, war ich früh genug da, um problemlos Platz nehmen zu können.
Kurzfristig war auch Marijana Jankovic, die die weibliche Hauptrolle im Film spielt, eingeflogen und konnte vor dem Film noch ein paar Worte zum Film sagen. Allerdings war die Anmoderation – Entschuldigung, wenn ich das so sagen muss – schlichtweg fürchterlich. Ich schiebe es einmal darauf, dass der Moderator wahrscheinlich direkt von der Preisverleihungsgala gekommen ist. Erst nannte er Boe einen skandinavischen David Lynch, wo ich schon ein Stechen in der Herzgegend empfand, aber okay. Dann ließ er sich wortreich, aber ein wenig wirr über den Film aus. Er beschrieb Szenen, ging auf den Prolog und Epilog ein, nannte den Film wahlweise ein Puzzel-, dann wieder ein Verwirrspiel, bei dem man nie genau wüsste, was das alles eigentlich soll. Als er dann noch die Marijana Jankovic fragte, ob denn wenigstens sie den Film verstanden habe und wisse worum es geht, befürchtete ich schon, dass das Publikum – welches den Film ja noch nicht kannte – bereits im Vorfeld frustriert das Kino verlässt. Marijana Jankovic fand darauf aber die einzig richtige Antwort: Boe hätte ihr irgendwann mal gesagt, der Film handele von Liebe.
Wie gesagt, meine Erwartungen an „Alles wird gut“ (Alting bliver godt igen) waren sehr hoch und am Ende war ich dann doch etwas enttäuscht. „Alles wird gut“ erzählt einerseits die Geschichte eine Regisseurs, der unter hohem emotionalen Druck steht. Er muss bis ende der Woche ein Drehbuch abliefern, leidet aber gerade unter einer Schreibblockade. Gleichzeitig bereitet er zusammen mit seiner Frau die Adoption eines kleinen tschechischen Jungen vor. Auf der Heimfahrt vom Studio überfährt er einen jungen Mann. Schwer verletzt bittet dieser ihn, seine Tasche in Sicherheit zu bringen. Der Regisseur flieht vom Unfallort und entdeckt später in der Tasche des Unfallopfers Fotos, die Gräueltaten dänischer Soldaten im Irak beweisen. Der Regisseur versucht die Fotos der Presse zuzuspielen, wird dabei aber immer paranoider und traut bald noch nicht einmal mehr seiner eigenen Schwester.
Der Moderator meinte am Anfang, man könne den Film auf viele unterschiedliche Arten lesen (die er dann auch alle ausplauderte). Das sehe ich nicht so. Zwar spielt Boe mit der Erwartungshaltung der Zuschauers und lässt ihn viele Zusammenhänge selber erarbeiten, aber auf der anderen Seite streut er im Film auch so viele eindeutige Hinweise auf die „wahre“ Handlung, das eigentlich nur eine Lesart möglich ist. Man muss nur ganz genau hinschauen. Von daher würde ich den Film als Fingerübung sehen. Ein (lösbares) Rätsel, bei dem es dem Regisseur Freude macht, erst Spuren zu legen und dann geschickt davon wieder abzulenken. Ein schönes Spiel, welches vielleicht auch beim zweiten Mal auch noch Spaß macht. Danach ist man aber wahrscheinlich enttäuscht, dass der Film gar nicht eine so große Tiefe besitzt, wie es zunächst erscheint. Ich vermute, Boe weiß das auch und lacht sich ins Fäustchen. Ansonsten ist der Film eine große Jens-Albinus-Show und, wie immer bei Boe, beeindruckend fotografiert. Mit vielen, vielen Nahaufnahmen und einem mysteriösen, stimmungsvollen Gegenlicht, welches dem ganzen ein traumhafte Stimmung gibt. Trotzdem, ich hatte mir etwas mehr versprochen.
Damit war dann schon wieder ein Tag vorbei gegangen. Für Sonntag hatte ich nur noch einen Film auf dem Programm, denn ich wollte nicht allzu spät abreisen und am frühen Abend zurück in Bremen sein.
Für meinen neunten und letzten Film auf den Nordischen Filmtagen, fiel meine Wahl auf das dänische Knastdrama „R„. Und das war – das kann ich schon verraten – auch gut so.
Doch vor dem Hauptfilm wurde noch ein weiterer Kurzfilm gezeigt. Der finnische „Whispering in a friend’s mouth“ (Älä kuiskaa ystävän suuhun) konnte leider das Niveau der anderen Vorfilme nicht halten. Ganz im Gegenteil. Er hatte zwar einen ausgesprochen interessanten Ansatzpunkt (die Bedeutung einer Handlung verändert sich, je nachdem ob sie vorwärts oder rückwärts abläuft), aber er macht nichts daraus. Viel eher scheint es, als ob die Regisseurin irgendwo auf der Hälfte nicht mehr genau gewusst hat, wie sie das Projekt zu Ende bringen soll und so wird das Grundprinzip stark verwässert und der Film selber bedeutungslos. Schade. Da wäre weitaus mehr drin gewesen.
Diese kleine, und dankenswerterweise auch sehr kurze, Ausfall wurde aber durch „R“ mehr als kompensiert. „R“ handelt von Rune, der ins dänische Staatsgefängnis eingeliefert wird. Wir erfahren nicht viel über ihn. Er war wohl in eine Messerstecherei verwickelt. Irgendwann lernen wir auch kurz seine Großmutter kennen. Ansonsten definiert sich der Charakter nicht über seine Vergangenheit, sondern rein über den Augenblick. Rune versucht sich dem Knastleben anzupassen, er unterwirft sich den Anführern des Gefängnisflügels, muckt nicht auf und ist sich auch für die Drecksarbeit nicht zu schade. Er will hier einfach nur irgendwie überleben. Eines Tages entdeckt R durch Zufall aber einen Weg, wie der Drogenhandel zwischen dem „dänischen“ und dem „muslimischen“ Teil des Gefängnisses optimiert werden kann. Das lässt ihn scheinbar in der Hierarchie aufsteigen. Aber das Gefängnis ist ein Dschungel, in dem man niemanden trauen kann und kleine Säugetiere wie Rune ohne Mitleid von den großen Löwen zerfleischt werden.
„R“ hat mich begeistert. Ein intensiver, sehr dichter Film, dessen herausragende Kameraarbeit einen förmlich einsaugt. Immer ist sie Rune dicht auf den Fersen, es gibt fast keine Einstellung ohne ihn. Immer sind wir ganz nah bei ihm. Sehen was er sieht, erleben, was er erlebt. Und das ist nie etwas erfreuliches. Das Leben im Knast ist hier die Hölle. Nein, keine Sekunde möchte ich hier mit diesen Menschen eingesperrt sein. Ständig spürt man den Druck, dem Rune ausgeliefert ist. Ständig schwebt das Damokles-Schwert über ihm, irgendwie in Ungnade zu fallen. Den wichtigen Schutz zu verlieren und von einer Minute zur anderen Freiwild zu sein. Jegliche „Knast-Romantik“ oder das Klischee vom „harten Kerl, der sich beweisen muss“ wird effektiv umschifft. „R“ ist ganz harter Stoff, der einem beinahe körperlich zusetzt. Gerne würde ich auf die letzten 15 Minuten des Filmes eingehen, die mich dann noch einmal richtig mitgenommen, aber auch begeistert haben. Aber es verbietet mir die Fairness, hier zuviel zu verraten. Einen teil seiner unglaublichen Intensität erzielt der Film davon, dass er an einem Originalschauplatz (einem gerade aufgegeben, echten Gefängnis) gedreht wurde und bis auf die zwei Hauptdarsteller nur „Leute vom Fach“ engagiert wurden, welche z.T. als Drehbuchberater fungierten. Und diese Leute sind wirklich authentisch. Keine Schauspieler, sondern genau die Typen, die einem nachts am Hauptbahnhof ein sehr ungutes Gefühl bescheren, wenn man in die 10 Richtung Gröpelingen steigt.
Wie man merkt, ich bin begeistert. Im Internet lass ich einige Kritiken, die dem Film eine zu große Ähnlichkeit zu dem französischen Oscar-Kandiaten „Ein Prophet“ vorwarfen. Nun, ich kenne „Ein Prophet“ bisher noch nicht (werde ich aber sicherlich nachholen), darum kann ich dazu nichts sagen. „R“ wird zumindest auf meiner Jahresbestenliste 2010 ganz weit vorne zu finden sein.
Somit hatten die 52. Nordischen Filmtage für mich den perfekten Abschluss gefunden und ich wollte das nicht durch noch einen Film gefährden (zudem ich sonst wohl auch meine Ehe aufs Spiel gesetzt hätte). Um 14:10 verließ mein Zug Lübeck Richtung Hamburg, von wo aus es dann mit dem Metronom nach Hause ging.
Mein Fazit: Nach meinem ersten Mal auf den Nordischen Filmtagen bin doch sehr positiv überrascht. Nicht nur von der schönen Atmosphäre während des Festivals, sondern auch von der Qualität der Filmauswahl. Ich hatte bei meinen neun Spielfilmen keinen einzigen echten Totalausfall, wie man es ja bei anderen Filmfestivals immer wieder der Fall ist. Vielleicht hatte auch dieses Mal einfach nur ein gutes Näschen oder der diesjährige skandinavische Jahrgang zeichnete sich eh durch eine hohe Güte aus. Da fehlt mir der Vergleich zu den Vorjahren. Das Einzige, was mich etwas wurmt – aber das ist allein mein eigenes Verschulden – ist die Tatsache, dass ich mir durch meinen selbst auferlegten, engen Zeitplan keine Chance eingeräumt hatte, in die Retrospektive zu gehen und Christina Lindberg zu treffen. Aber gut, man kann nicht alles haben. Leider. Auf jeden Fall war Lübeck eine Reise wert – nicht nur wegen des Filmfestivals, sondern auch wegen der schönen und sympathischen Stadt. Meine Frau und ich planen auf jeden Fall im Frühjahr dort ein „echtes“ Urlaubswochende ganz ohne Kino zu verbringen. Und ich selber hoffe, dass ich auch im nächsten Jahr wieder Gast bei den, dann 53., Nordischen Filmtagen sein kann.