Comissario Belli (Franco Nero) ist es nach einer spektakulären Verfolgungsjagd durch Genua gelungen, einen Kurier der libanesische Drogenmafia festzunehmen. Doch als dieser ins Polizeipräsidium gebracht werden soll, wird er von der Mafia zusammen mit den ihn begleitenden Polizisten und unschuldigen Zivilisten in die Luft gesprengt. Belli selber überlebt diesen Anschlag nur durch einen Zufall. Rasend vor Wut und fassungslos über die Skrupellosigkeit der Gangster, setzt Belli alles daran, die Mafiosi ihrer gerechten Strafe zuzuführen…
Lange hat es gedauert, bis „Tote Zeugen singen nicht“ (auch bekannt als „Straße zum Jenseits“) eine adäquate Veröffentlichung in Deutschland bekommen hat. Der Film zählt zu den wichtigsten Poliziotteschi und stellt die erste Zusammenarbeit zwischen Regisseur Enzo G. Castellari und Franco Nero da. Diese sollte sich als ausgesprochen fruchtbar erweisen und Filme wie „Ein Bürger setzt sich zur Wehr“ (Review hier) oder den grandiosen „Keoma“ (der auch einmal eine schöne Veröffentlichung verdient hätte) hervorbringen. Und gerade das Genre des Poliziotteschi sollte Castellari den Ruf eines hervorragenden Action-Regisseurs einbringen, welchen er später durch seine Endzeitfilme (die den Höhepunkt dieser kurzlebigen Welle im Gefolge von „Mad Max“ und „Die Klapperschlange“ darstellten) noch untermauern sollte. Während seine Inszenierung der Action ab der italienischen „Ein Mann sieht rot“-Variante „Ein Bürger setzt sich zur Wehr“ stark von den stilisierten, intensiven Zeitlupen-Eruptionen eines Sam Peckinpah geprägt sind, so ist diese bei „Tote Zeugen singen nicht“ erst im Ansatz vorhanden. Vielmehr scheint sich Castellari hier noch am harten Realismus von William Friedkins Klassiker „Brennpunkt Brooklyn“ alias „The French Connection“ zu orientieren, wenn er seinen Film mit einer atemlosen Verfolgungsjagd beginnt, die in ihrer Rasanz und knackigen Bodenständigkeit an die berühmte Auto jagt U-Bahn-Sequenz aus Friedkins Film erinnert.
„Tote Zeugen singen nicht“ ist einer der wichtigsten Filme für das Genre, denn er liefert die Blaupause für zahllose Nachzügler und Nachahmer, die unsere heutige Wahrnehmung des Poliziotteschi stark prägten. Und er war auch ein sehr wichtiger Film für einen Schauspieler, der hier gar nicht in Erscheinung tritt, nämlich Maurizio Merli, der zwei Jahre nach „Tote Zeugen singen nicht“ aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Franco Nero als ebenfalls blonder, schnauzbärtiger Commissario „Betti“ (statt Belli) für Marino Girolamis „Gewalt rast durch die Stadt“ gecasted. Kurz zuvor hatte er übrigens bereits Neros Nachfolge als Hauptdarsteller im dritten Teil der „Wolfsblut“-Reihe übernommen. Als jener „Betti“ war er noch zwei Mal unterwegs und spielte ansonsten harte Cops mit losen Fäusten und schnellen Waffen, die am Besten mit dem Titel seines 1978 von Stelvi Massi (der einige Filme mit Merli drehte) inszenierten „Il commissario di ferro“ gut charakterisiert werden können. Vergleicht man „Betti“ mit „Belli“, dann erkennt man neben den offensichtlichen Gemeinsamkeiten (aufbrausend und wütend, schlägt zu bevor er Fragen stellt, verbissen und fast schon besessen von der Jagd auf Kriminelle) auch deutliche Unterschiede. Während Merlis Figuren zumeist reaktionäre Stereotype sind, denen nur selten eine komplexere Hintergrundgeschichte vergönnt ist, und die schier unverwundbar wie eine Sense durch die italienische Unterwelt pflügen, ist Franco Neros Belli eine vielschichtige, kompliziertere Figur.
Belli mag aufbrausend, cholerisch und voller Wut sein. Er mag immer mit voller Härte am Rande der Legalität agieren. Aber dank Neros Drahtseil-Darstellung zwischen beinahe parodistischer (wobei er hier das Original zur Parodie darstellt) Stereotype mit Hang zum Overacting und ernsthaftem Drama scheint an jeder Stelle auch das an der eigenen Ohnmacht bitter Verzweifelnde durch das Gewand des harten Mannes. Belli ist kein strahlender Held. Der Job und die Unmöglichkeit etwas am korrupten System der italienischen Politik zu ändern, hat ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Doch seine Halsstarrigkeit, die Weigerung seine Niederlage, seine Impotenz etwas ändern zu können, anzuerkennen, haben auch sein soziales Leben beschädigt. Die Freundin wird von ihm aus nichtigen Anlässen angebrüllt, das ihn liebende Kind hat er weggeschickt. Nicht nur, weil er – zu recht – um dessen Sicherheit fürchtet, sondern weil es auch nicht in sein Leben passt, welches sich ganz dem Kampf gegen die Windmühle Organisiertes Verbrechen und den Verstrickungen der Legislative und Judikative mit eben jenem verschrieben hat. Dass er scheinbar nebenbei eine Abhängigkeit von Nasenspray entwickelt hat, ist Ausdruck seiner Getriebenheit.
Francos Belli wird die Figur des alten Commissarios Scavino, großartig gespielt vom leider noch immer viel zu unbekannten James Whitmore (immerhin zweimal für den Oscar nominiert), gegenüber gestellt. Während Belli drängt und sofort Resultate sehen will, ist Scavino abwartender, überlegter – will an die Leute hinter den kleinen Fischen heran. Was ihn aber auch verdächtig macht, mit eben jenen Schattenleuten zusammenzuarbeiten und Beweise zurückzuhalten. Die Zusammenstöße zwischen Belli und Scavino kumulieren in einer hitzigen Diskussion auf einem Waldparkplatz außerhalb der Großstadt. Hier zitiert Castellari den großartigen Mafiafilm „Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert“ (Review hier) von Großmeister Damiano Daimani. In diesem Film spielt ausgerechnet Franco Nero den eher besonnenen, abwartenden Staatsanwalt, der mit den handfesten, und die Grenze des Legalen häufiger überschreitenden Methoden seines frustrierten Kommissars (gespielt von einem anderen Hollywood-Veteranen: Martin Balsam) ganz und gar nicht einverstanden ist. Die Besetzung von Fernando Rey als altes Mafia-Oberhaupt lässt wiederum an „Brennpunkt Brooklyn“ denken, was sicherlich von den Produzenten gewünscht war. Wenn Rey seine Rolle auch gänzlich anders anlegt ist als den Bösewicht in Friedkins Film. Sein Cafiero erinnert eher an Don Vito Corleone aus „Der Pate“. Ein Patriarch, dessen Zeit vergangen ist und dessen Position von jüngeren, skrupelloseren Gangstern eingenommen wird. Ein Thema, welches man in späteren Poliziotteschi immer wieder neu aufnehmen wird.
Castellari erzählt seine Geschichte nicht durchgehend linear. Immer wieder setzt er eine ausgefeilte Rückblendenstruktur ein. Ereignisse werden wiederholt, in die aktuellen Geschehnisse hinein geschnitten, wodurch Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschwimmen, sich im Kopf Bellis förmlich auflösen und so für ihn die Vergangenheit nie abgeschlossen ist. Gerade das tragische Finale erhält dadurch eine emotionale Wucht, welche sonst vielleicht verpufft wäre (gerade auch, weil in der schockierensten Szene ganz offensichtlich eine Puppe statt einer Stuntperson verwendet wird). So gelingt es Castellari aber, dem Zuschauer einen dicken Kloß in den Hals zu pressen. Ein weiterer Baustein für diese emotionale Mitnahme des Zuschauers ist die kongeniale Musik der Brüder De Angelis, mit denen Castellari noch häufiger zusammenarbeiten sollte. Die Musik aus „Tote Zeugen“ sollte nicht nur häufiger in anderen Poliziotteschi zu hören sein, sondern auch jeden Poliziotteschi-CD-Sampler zieren und 2007 von Quentin Tarantino in „Death Proof“ verwendet werden.
Mit der Nummer 18 ihrer „Polizieschi Edition“ hat filmArt nach „Ein Bürger setzt sich zur Wehr“ eine weitere, heiß ersehnte, auf 1000 Stück limitierte Veröffentlichung auf den Markt gebracht. Der Film ist einer der einflussreichsten Vertreter des Genres, welches der Edition seinen Namen gab und daher erfreut die technisch wieder einmal höchst gelungene Umsetzung. Bild und Ton (Deutsch, Englisch und Italienisch) sind ausgezeichnet. Deutsche Untertitel sind ebenfalls vorhanden. Als Extras wurden ein englischer Trailer; eine Filmfassung mit alternativem Ende (in HD) – Spoiler: Das alternative Ende bricht vor dem offiziellen Ende ab, enthält also kein alternatives Material und wirkt wie das ursprünglich intendierte; eine Bildergalerie; diverse, internationale Vorspänne in unterschiedlichsten Qualitäten; sowie eine Trailer-Show. Das umfangreiche und informative 20-seitige Booklet wurde von Michael Cholewa geschrieben, der einst mit Karsten Thurau das deutschsprachige Standardwerk zum Poliziotteschi, „Der Terror führt Regie“, verfasst hat.