Bericht vom 33. Braunschweig International Film Festival – Tag 1

Wie im Vorjahr zog es mich auch dieses Jahr wieder zum Braunschweig International Filmfestival (BIFF). Wieder aus einem guten Grunde. Unsere Zeitschrift „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“, bei dem ich ehrenamtlich als stellvertretender Chefredakteur tätig bin, war zum zweiten Mal Medienpartner des BIFF. Da ist es natürlich Ehrensache, zumindest zu jenen beiden Veranstaltungen, welche die 35MM mit dem BIFF durchführt, anwesend zu sein. Diese fanden wieder am Samstag, also dem vorletzten Tag des Festivals, statt. Im Gegensatz zu 2018, als ich Sonntagmorgen in aller Herrgottsfrühe wieder abgereist bin, gönnte ich mich diesmal auch noch den Sonntag. Zusammen mit meinem Bremer Filmfreund Holger machte ich mich also am Samstagmorgen auf den Weg nach Braunschweig – um umgehend von der Deutschen Bahn ausgebremst zu werden. Der direkte Zug nach Braunschweig hatte 40 Minuten Verspätung, und es war nicht ganz klar, ob er überhaupt fahren würde. Also umdisponieren und mit dem Bummelzug über Hannover ans Ziel der Reise. Ich ersparen den werten Leserinnen und Lesern nun die lange Geschichte dieser Odyssee durch Niedersachsen und springe gleich ins Astor-Kino, welches wir dank eines todesmutigen Taxifahrers gerade pünktlich zum Beginn des ersten Filmes erreichten. Während Holger schnell ins Kino durchlief, hatte ich noch mit meiner Akkreditierung zu kämpfen, die nicht aufzufinden war. Auch hier verkürze ich schnell – mir wurde schnell ein Ersatz ausgestellt und die „echte“ Akkreditierung fand sich nach dem Film dann doch noch an. Abgekämpft und noch mit dem gesamten Gepäck beladen, konnte ich mich endlich in die sehr gemütlichen Sessel des frisch umgebauten und in ein Luxuskino verwandelten ehemaligen C1 und heutigem Astor sinken lassen.

She’s Missing – Heidi (Lucy Fry) und Jane (Eiza Gonzalez) sind beste Freunde. Zumindest sieht das Heidi so. Eine einsame Seele, die irgendwann in einem kleinen Wüstenkaff hängen geblieben ist, als ihr Freund sie sitzen gelassen hat. Jane ist die einzige Person zu der sie eine tiefgreifendere Beziehung hat. Jane hingegen ist nicht so sehr auf Heidi angewiesen. Sie heiratet einen Soldaten und zieht mit ihm eine kleine Siedlung für Armeeangehörige. Heidi glaubt in einem der Besucher des Diners, in dem sie als Kellnerin arbeitet, einen möglichen Partner und Seelenverwandten zu finden, wird aber bitter enttäuscht. Dann verschwindet Jane scheinbar spurlos. Heidi macht sich auf die Suche nach ihrer Freundin, was sie in die Wüste und zu einer sektengleichen Gemeinschaft führt.

„She’s Missing“ ist der zweite Langfilm der Filmemacherin Alexandra McGuinness. Ein langsamer Film, der sich wie seine Hauptfigur Heidi nie so ganz sicher zu sein scheint, wohin er gehört. Ist er ein Film über Freundschaft? Ein Selbstfindungsfilm? Mystery? Thriller? Alles in einem? In einigen Ankündigungen wird „She’s Missing“ mit David Lynch verglichen, was dem Film sicherlich nicht gut tut und weit hergeholt erscheint. Zwar gibt es ein paar Momente in denen die Grenze Traum/Wirklichkeit nicht klar definiert ist, doch da hat es sich auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Irgendwann trifft Heidi bei ihrer Suche nach Jane auf einen Guru und seine „Familie“. Dort wird fröhlich das Schießen mit Maschinengewehren geübt und abends stehen wie selbstverständlich die Waffen im Wohnzimmer an der Wand gelehnt. Doch aus diesem Szenario wird nicht viel gemacht. Die Figur des Guru, der von deutlich gealterten Josh Hartnett gespielt wird, bleibt blass und klischeehaft. Und gerade, wenn man erwartet, dass nun etwas passieren würde, treibt der Film schon weiter.

Das Hauptproblem ist allerdings das Verhältnis zwischen Heidi und Jane. Während uns Heidi bald schon ans Herz wächst, ist Jane von Anfang an unsympathisch, egoistisch und nimmt Heidis ins homoerotische kippende Zuneigung nicht wirklich ernst. Mehr als einmal möchte man Heidi (wie es im übrigen auch einige Figuren im Film tun) zurufen, dass es sich nicht lohnt, nach Jane zu suchen, und diese sie nur emotional ausnutzt. Je länger die Suche dauert, desto häufiger fragt man sich, ob Janes Verschwinden nicht das Beste sei, was Heidi passieren konnte. Vielleicht ist das auch die Aussage des Films. Diese Suche nach sich selbst, und die Emanzipation von einer emotionalen Bindung zu einer Person, die einem nicht gut tut. Das wäre dann aber etwas dünn, vor allem, wenn der Film immer wieder Geschichten hinter der eigentlichen Geschichte andeutet (die anderen vermissten Personen, Drogen, die Sekte), diese dann aber kommentarlos fallen lässt. Schön gefilmt, toll gespielt (insbesondere von Lucy Fry, die im selben Jahr neben Will Smith in „Bright“ zu sehen war), aber leider auch irgendwie egal.

Corpus Christi – Der junger Gewalttäter Daniel entdeckt im Warschauer Jugendgefängnis sein Interesse an der katholischen Kirche. Eine Ausbildung zum Priester wird ihm allerdings durch seine Vergangenheit und den Knastaufenthalt verwehrt. Als er entlassen wird, wird er ans andere Ende von Polen geschickt, wo er in einem Sägewerk im Rahmen eines Resozialisierungsprogramms für junge Straftäter arbeiten soll. Doch dazu hat Daniel keine Lust. Als er sich die Kirche des nahegelegenen Dorfes anschaut, gibt er sich im Übermut als Priester aus. Zu seinem Erstaunen stellt dies niemand in Frage. Er wird seinem „Kollegen“ vorgestellt, der aus Gesundheitsgründen einen Stellvertreter sucht, während er für einige Tage ins Krankenhaus geht. Daniel nimmt das Angebot zögernd an und wird tatsächlich Priester in der Dorfkirche. Bald schon stößt er auf ein Geheimnis, welches von den Bewohnern des Dorfes unter den Teppich gekehrt wird. Seine unorthodoxe, lockere Art und Weise lässt ihn vor allem bei den jüngeren Dorfbewohnern ausgesprochen beliebt werden. Doch als er anfängt tiefer in der Wunde des Dorfes zu bohren, wendet sich das Blatt.

„Corpus Christi“ ist der polnische Kandidat für den Oscar. Und das zu recht. Ein wundervolles Juwel, dem ich aus ganzem Herzen einen deutschen Kinostart wünsche. Die Geschichte vom Gefallenen, der Gott findet, hätte entweder ganz übler Kirchenkitsch werden können oder ein wütender Aufschrei gegen die katholische Kirche. „Corpus Christi“ ist nichts von beidem. Hier hat jeder seine hellen und dunklen Seiten. Niemand ist nur gut oder nur schlecht. Das fängt schon mit der Figur des Daniel an, der von dem fantastischen Bartosz Bielenia eindrucksvoll verkörpert wird. Daniel findet zwar so etwas wie seine Berufung, aber er bleibt trotzdem der Mensch, der er auch vorher war. Er wird nicht vom brutalen Saulus zum engelsgleichen Paulus. Daniel bleibt jemand, der gewalttätig ist, sich seine eigenen Gesetze macht, Drogen und Alkohol konsumiert und nicht nach einer Legitimation für sein Tun fragt. Andererseits verfügt er über eine natürliche Moral. Möchte helfen, Sachen, die in seinen Augen nicht richtig sind, gerade rücken. Und dies kompromisslos. Und er lernt aufrichtige Liebe für seine Mitmenschen – gerade für jene, welche von der Gesellschaft ausgeschlossen werden – zu empfinden. Dabei wird kritisch auf die Institution der Kirche eingegangen, ohne diese zu verteufeln. Auch die Doppelmoral der Dorfbewohner wird vor Augen geführt, allerdings werden sie dadurch nicht denunziert. Es gibt nachvollziehbare Gründe für ihr Handeln, auch wenn man diese nicht gut heißen kann. Und ob das Opfer ihres Hasses wirklich vollkommen unschuldig war, wird auch nicht geklärt. Ist aber auch völlig egal. „Corpus Christi“ ist manchmal eine erheiternde Komödie, manchmal ein spannender Thriller, ein brutaler Knastfilm, ein berührendes Drama. Ein Film, der für ein offenes Miteinander eintritt, gegen blinden Hass. Der seinen Figuren seine Persönlichkeit belässt. Der beobachtet, ohne zu werten. Schlichtweg ein großartiger Film mit einem faszinierenden Hauptdarsteller, hinter dessen blass-blauen, durchdringenden Augen ebenso eine begeisterungsfähige, sensible Seele  steckt, wie ein knallharter Hooligan.

Ein Höhepunkt war des BIFF das Stummfilmkonzert. Ursprünglich sollte dieses in einer alternativen Kneipe namens „Schrill“ durchgeführt werden, doch dann musste es aus organisatorischen Gründen von heute auf morgen verlegt werden. Und dies erwies sich als Glücksfall, denn als neuer Abspielort sprang kurzfristig die Michaeliskirche ein, die zwar etwas abseits des Filmfestgeschehens liegt, dafür in einem idyllischen Viertel umrahmt von alten Fachwerkhäusern. Der ideale Ort, um vier frühe, auf dem Werk Edgar Allen Poes beruhende Kurzfilme zu zeigen. Die grandiose Akustik der noch aktiv genutzten Kirche tat ein Übriges, um ein ganz besondere Stimmung zu zaubern. Zu meiner großen Freude wurde das Event auch sehr gut angenommen und bald schon füllten sich die Kirchenbänke mit ebenso neugierigen, wie erwartungsvollen Zuschauern. Und diese Erwartungen sollten auch nicht enttäuscht werden. Die vier Filme wurden von meinem überaus geschätzten 35MM-Kollegen Christoph Seelinger und seinem musikalischen Partner Jakob Gardemann eindrucksvoll vertont. Das Duo lies mittels Synthesizer und E-Gitarre düstere Klangnebel durch die Kirchenhalle wabern, die perfekt zu den surrealen, expressionistischen und morbiden Bildern auf der Leinwand passten. Im Zusammenspiel mit dem atmosphärischen Beleuchtung und diesem besonderen Ort, lief es einem mehr als einmal angenehm kalt den Rücken herunter. Gezeigt wurden „Edgar Allan Poe“, den  D.W. Griffith 1909 in Szene setzte und der die (fiktive) Geschichte erzählt, wie Poe sein berühmtes Gedicht „Der Rabe“ schrieb, um Geld für Lebensmittel zu bekommen, damit seine todkranke Frau wieder gesundet. Das Spiel der Darsteller, insbesondere Barry O’Moore als Poe, ist dermaßen übertrieben expressive, dass es normalerweise zum Lachen animieren würde, wenn sich die Musik nicht auf die Todesnähe und düstere Verzweiflung des Protagonisten konzentrieren würde. Auch wenn die Schere zwischen Musik und Bild dadurch etwas auseinanderklafft, erzwingt der Sound hier eine wohltuende Ernsthaftigkeit, die besser zu dem folgenden Programm passt, als beispielsweise eine lustig-luftige Pianobegleitung, die auch möglich gewesen wäre und das exaltierte Spiel O’Moores Richtung Slapstick gerückt hätte. Der zweite Film war der von den enthusiastischen und hochtalentierten Amateuren James Sibley Watson und Melville Webber inszenierte „The Fall of the House of Usher“ von 1929, der deutlich vom avantgardistischen Experimentalfilm kommt und alle möglichen (und unmöglichen) Kamera- und Filmtricks nutzt, um ein delirendes Inferno an surreal-expressiven Bildern zu entfachen, welches den Zuschauer mit in den Wahnsinn Roderick Ushers reißt. Ganz großes Kino, welches kongenial vertont wurde. Hier hätte man sich eine etwas bessere Fassung gewünscht, da diese hier sehr viele störende digitale Artefakte und Blockbildung aufwies. Ähnliches gilt mit Abstrichen auch für die beiden großartigen experimentellen Kurzstummfilmen „Il cuore rivelatore“ und „Il caso Valdemar“ aus Italien, die es aber anscheinend auch in keiner anderen Version gibt. Die Filme stammen aus dem Jahre 1934 resp. 1936 und sind wirklich einzigartig. Zu „Il cuore rivelatore“ schrieb ich bereits einiges in dem Artikel „DAS VERRÄTERISCHE HERZ – Neun Variationen zu einem Thema“ in der „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“-Doppelausgabe Nr. 31/32. Der unfassbare „Il caso Valdemar“, nimmt gerade am Ende Splattereffekte vorwegt, die man eher in einem Lucio-Fulci-Film Anfang der 80er erwarten würde. Nach der Vorstellung leerte sich die Kirche nur langsam. Viele Zuschauer blieben noch, unterhielten sich mit den beiden Musikern oder angeregt miteinander.

Zum Abschluss gab es dann im Universum-Kino noch jenen Film, der ganz offiziell in Kooperation mit der 35MM gezeigt wurde. Innerhalb der von 35MM-Chefredakteuer – und seit diesem Jahr Mitglied des BIFF-Vorstandes – Clemens Williges kuratierten Reihe „Bloody Women at Midnight“ lief der von Jack Hill begonnene, dann aber von Stephanie Rothman beendete (was sie zur ersten Frau machte, die einen Horrorfilm inszenierte) „Blood Bath“. Nach der wie im Vorjahr obligatorischen Verlosung einiger 35MM-Ausgaben (von denen gleich zwei an einen ungewöhnlich gut informierten jungen Mann gingen) ging es im gut gefüllten kleinen Saal des Universums mit einem unfassbaren Mischmasch los. Dem mit 62 Minuten angenehm kurzen Film merkt man zu jeder Sekunde seine Produktionsgeschichte an. Teile stammen zum Beispiel aus dem jugoslawischen Film „Operacija Ticijan“ von Rados Novakovic. Ein Serienkiller treibt sein Unwesen, der sich als Vampir entpuppt. Ein wahnsinniger Maler hat Visionen und taucht Menschen in Wachs. Zwischendurch gibt es noch parodistische Einschübe, welche auf die amerikanische Kunstszene abzielen. Es wird viel und oft an den Strand gegangen oder düstere Glockentürme gezeigt. Trotz dieses haarsträubenden Flickenteppichs an Ideen, Stilen und nicht unbedingt zusammenhängenden Szenen (in der Hauptdarsteller auch gerne mal verschwinden, und sich spätere Szenen im Widerspruch zu vorangegangenen befinden) macht er einen höllischen Spaß. Gerade die Szenen mit den von sich selbst berauschten Künstlern in einer Hinterhofkneipe (zu denen einen wunderbarer und noch mit pechschwarzem Haupthaar gesegneten Sid Haig gehört) sind das Eintrittsgeld wert. Und man muss festhalten, dass die unheimlichen Szenen im Atelier des Malers oder jene mit dem Vampir vor gotischen Bauten ausgesprochen atmosphärisch gelungen sind. Wer interessiert sich da noch für eine logische, nachvollziehbare Handlung, wenn er in den expressionistischen Bildern versinken kann? Versunken bin ich ebenfalls, und so mischten sich Film und Traum öfter mals, was angesichts der sehr fortgeschrittenen Stunde hoffentlich verzeihbar ist. Was aber nichts ausmacht und die halluzinatorische Qualität des Filmes nur noch hervorhebt.

Nach diesem letzten Film überlegten sich die anwesenden 35MM-Redakteure und Freunde, wo der Abend beendet werden solle. Man entschied sich schließlich gegen das Schrill und für die große Filmfest-Party im Großen Theater. Ja, das war durchaus beeindruckend und der Ballsaal schon eine Location, die man nicht jeden Tag sieht. Aber es war auch sehr laut, eher ungemütlich und für die Kommunikation nicht gerade optimal. So löste sich unsere traute Runde schon bald wieder auf. Was auch gut war, denn es war mittlerweile wirklich sehr spät geworden – und am nächsten Morgen wartete doch noch ein cineastisches Highlight auf uns.

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