Blu-ray-Rezension: „Laurin“

Im einer kleinen, norddeutschen Hafenstadt Anfang des 20. Jahrhunderts, verschwindet eines nachts ein kleiner Zigeunerjunge. Zur selben Zeit kommt Flora (Brigitte Karner), die Mutter der 9-jährigen Laurin (Dóra Szinetár), unter mysteriösen Umständen ums Leben. Einige Zeit vergeht, da kehrt der junge Van Rees (Károly Eperjes), der Sohn des tyrannischen Dorfpastors (Endre Kátay) in den Ort zurück und wird von seinem Vater zum neuen Lehrer des Ortes gemacht. Laurin lebt mittlerweile allein bei ihrer kränkelnden Großmutter (Hédi Temessy), denn der Vater ist schon lange wieder zur See gefahren. Laurin von Visionen gequält und verdächtigt den neuen Lehrer, mit den Ereignissen der schicksalsschweren Nacht in Verbindung zu stehen. Gemeinsam mit ihrem gleichaltrigen Freund Stefan (Barnabás Tóth), macht sie sich auf, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen…

Ich weiß nicht, ob ich „Laurin“ damals bei seiner ersten Fernsehausstrahlung sah. Wahrscheinlich nicht, denn daran sollte mich erinnern können. Trotzdem hatte ich nun, da ich „Laurin“ das erste Mal ganz bewusst sah, das Gefühl, ich würde ihn kennen. Nicht wegen bestimmter Szenen, Bilder oder anderen, konkreten Erinnerungsfetzen. Nein, es war dieses Gefühl, das ich kannte. Dieses diffuse, seltsame Gefühl aus der Kindheit, wenn man etwas sah, was einen beunruhigte, ja ängstigte, aber gleichzeitig ungeheuer faszinierte.

Da war einmal „Das Haus der Krokodile“, diese TV-Serie mit Tommy Ohrner, die ich wahrscheinlich bei der zweiten Wiederholung 1981 sah. Ich weiß noch, wie mich die unheimlichen Augen, die ein unter mysteriösen Umständen verstorbenes Kind gemalt hatte, in den Schlaf verfolgten. Eigentlich verfolgen sie mich bis heute. Wie die Handlung der Serie auf meinen Alltag übergriff und unser Haus sich plötzlich nicht mehr sicher anfühlte, weil da vielleicht irgendwo auf dem Dachboden etwas lange Vergessenes lauern konnte. Dieses latente Gefühl der Bedrohung, welches mich nachts nicht schlafen ließ. Und gleichzeitig die Ungeduld, die Spannung, wie es denn in der Serie weitergehen wird. Diese Melange aus Ängstlichkeit und Sehen wollen, die im Magen ebenso sehr feurige Wärme, wie eisige Kälte hervorruft. Heiß, kalt – stimulierend. Oder „Mandara“. Noch so eine Kinderserie, die vielleicht noch gar nichts für meine zarte Seele war. Wo die Macher tatsächlich den Mut hatten, die kindlichen Helden nach der Hälfte Folgen einfach sterben bzw. den Bösen verfallen zu lassen. Ein Schock, von dem ich mich lange nicht erholen konnte. Der Ängste schürte, über die ich mir damals noch keine Gedanken machen wollte. Der Horror, das wohlige Gruseln.

Was hat das alles mit „Laurin“ zu tun? „Laurin“ erinnerte mich an diese Empfindungen aus meiner Kindheit. Denn auch „Laurin“ könnte ein solcher Kinderfilm sein. Ein sehr dunkler Kinderfilm. Seine Protagonisten sind ungefähr sind in dem Alter, in dem ich damals war, als oben genannte Serien an etwas in mir zerrten und es aufweckten. Sie werden mit schrecklichen Dingen konfrontiert. Märchenhafte Dinge. Der schwarze Mann. Ein archaische Sagengestalt, die Kinder fängt und verschleppt (wie man es in „Laurin“ in einer Buchillustration sehen kann). Sie müssen sich plötzlich mit etwas auseinandersetzten, was in der geborgenen Kinderwelt noch keinen rechten Platz hat: Dem Tod. Den der Eltern, der Freunde, der eigene Tod. Und sie müssen Mittel finden, damit umzugehen. Ihm entgegenzutreten oder sich mit ihm zu arrangieren. Denn der Tod übt auch eine merkwürdige Faszination aus.

Der Tod, der schwarze Mann, das ist in „Laurin“ der Lehrer Van Rees. Ein ehemaliger Soldat, der zurückkehrt ins Dorf. Kein Dämon, sondern ein von Dämonen gejagter und besessener Mann. Der als Kind von seinem grausamen Vater, dem evangelischen Pastor, misshandelt und seelisch missbraucht wurde. Bei der Figur des schrecklichen Vaters kommt einem augenblicklich der Pastor Edvard Vergérus aus Ingmar Bergmans Meisterwerk „Fanny und Alexander“ in den Sinn. Noch so eine seltsame Kindheitserinnerung. Es war vielleicht das erste Mal, dass ich mit dem „magischen Realismus“ in Kontakt kam, den ich heute so sehr liebe, und von dem auch „Laurin“ durchtränkt ist. Die Szene aus „Fanny und Alexander“, in der Alexander auf dem Dachboden den Geistern zweier ertrunkener Kinder begegnet, lässt mich noch heute erschaudern. Ebenso wie der erbarmungslose, grausame Pastor, der sich zum Stiefvater der Geschwister macht. Der alte Van Rees in „Laurin“ ist genauso ein menschliches Monster. Getrieben von der Gier, Macht über Andere auszuüben. Sie zu dominieren und nach einem völlig verkorksten, religiösen Weltbild zu formen. Seinen Sohn hat er seelisch verkrüppelt, mit Ängsten und Obsessionen vollgestopft. Ihn zum Kindesmörder gemacht.

Der alte Van Rees ist der Dämon in diesem Film. Sein Sohn ebenso Opfer, wie die Kinder, die er tötet. Ein wahrer Besessener. Besessen von dem Schmerzen und Verletzungen, die ihm zugefügt wurden, als seine Seele am verletzlichsten war. Das ist der Schrecken von „Laurin“: Dass Monster gemacht werden und dann hinter Masken lauern. Károly Eperjes verkörpert diesen jungen Van Rees mit viel Hingabe und Gefühl. Sein feines Gesicht spiegelt glaubhaft seine Verzweiflung wider. Über die Arbeit als Lehrer, die er nicht machen will, und die ihn vollkommen überfordert. Aber auch die Angst vor sich selbst, vor der Entdeckung und das Bedrohliche, das Wölfische, wenn sein Mordtrieb die Oberhand gewinnt. Allein seine deutsche Synchronstimme macht leider einiges von seinem Spiel kaputt. Denn sie klingt viel zu alt und zu abgeklärt für einen jungen, verwirrten Mann. Hier empfiehlt sich in der Tat die englische Fassung, zumal am Set auch auf Englisch gedreht wurde.

Überhaupt die Schauspieler. Regisseur Robert Sigl hat am Drehort Ungarn Gesichter gefunden, die man so schnell nicht vergisst. Sei es Endre Kátay als Pastor Van Rees oder Hédi Temessy als Großmutter Olga. Letztere ist eine faszinierende Gestalt, über die man mehr wissen möchte. Die scheinbar viel erlebt hat und eine Vorliebe für seltsame Blätter hat, die sie in einem Buch versteckt und gerne in ihre kleine Pfeife stopft. Nicht zu vergessen die Kinderdarsteller, wie der kleine Barnabás Tóth als Stefan und – natürlich – Laurin selber, die wundervolle Dóra Szinetár. Ein schönes Mädchen, welches ebenso neugierig wie herausfordernd in die Welt der Erwachsenen blickt. Sigl hat sie genau auf der Schwelle zwischen Kind und junger Frau gefunden. Kindliche Angst und unbekümmerte Spiele mit ihrem Freund Stefan, stehen erste Versuchen gegenüber, einen erwachsen Mann zu verführen. Und dem Mut, sich ihrer Angst zu stellen.

„Laurin“ handelt auch davon, wie das ist, wenn beide, das Kind und die Erwachsene, noch immer in einem Körper stecken. Von der Verwirrung, die dies stiftet. Die Sehnsucht nach der Sicherheit des Zuhauses und der unbändige Wunsch, die gefährliche, geheimnisvolle Welt dort draußen zu erforschen. Eben jenes Gefühl, welches ich auch hatte, als ich damals diese Geschichten im Fernsehen sah, die mir zeigen, dass es hinter meiner heilen Kinderwelt noch etwas anderes, etwas dunkleres, unheimliches, beunruhigendes gab. Und ich jede Woche ungeduldig darauf wartete, diese andere Welt zu betreten.

Nun könnte ich noch lange über die anderen Aspekte von „Laurin“ schreiben. Von den stimmungsvollen Bildern, die oftmals an die Meisterschaft eines Mario Bava erinnern und sich ähnlich unter die Haut schleichen. Von dieser seltsamen Stimmung, irgendwo zwischen tschechischem Märchenfilm und Ingmar Bergmann. Von alten Ruinen, die auch in einem Film von Jean Rollin auftauchen könnten. Davon, dass all diese Vergleich natürlich hinken, weil dies ein Film von Robert Sigl ist und eben ganz viel Robert Sigl in ihm steckt. Und ich könnte über eben jenen Robert Sigl schreiben. Darüber, dass „Laurin“ ein unerfülltes Versprechen auf eine große Karriere oder gar einer Wiedergeburt des deutschen Horrorfilms gewesen sei. Dass es eine Schande ist, dass er nie wieder die Möglichkeit bekam, seine eigenen Stoffe zu verwirklichen. Und dass man auf jeden Fall seine TV-Arbeiten für sich entdecken sollte. Aber das haben schon andere getan und sicherlich besser, als ich es könnte. Und es ist auch nicht wahr, dass „Laurin“ ein unerfülltes Versprechen sei. Denn es löst das Versprechen ein, den Zuschauer für knapp ein und ein halb Stunden mit in eine schrecklich-schöne, dunkle, märchenhafte Welt mit zu nehmen und sein Leben zu bereichern. Ja, es ist schade, dass Sigl bisher keinen weiteren „Laurin“ verwirklichen konnte/durfte. Aber „Laurin“ ist immer noch da. Ist nie weg gewesen. Existierte im Geflüster der cinephilen Gemeinde, verschwand nie aus der Erinnerung derer, die ihn gesehen haben. Und lies stetig eine kleine, aber feine Fangemeinde wachsen, die auch Sigls anderen Werke – Auftragsarbeiten allesamt – zu schätzen wissen. Und ist jetzt dank der nun endlich vorliegenden Blu-ray bereit, von einer neuen Generation entdeckt zu werden.

Dem verdienstvollen Label Bildstörung ist mit „Laurin“ ein weiterer Meilenstein in ihrer nun schon 30-teiligen Reihe „Drop-Out“ gelungen. Es kann an dieser Stelle gar nicht deutlich genug betont werden, was für eine großartige Arbeit hier jedes Mal geleistet wird. Für „Laurin“ beispielsweise wurde das Filmmaterial neu in 2K vom Negativ abgetastet und in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Robert Sigl restauriert. Und das sieht man auch. So gut, hat „Laurin“ höchstens bei seiner Kinopremiere mal ausgesehen. Natürlich ließ es sich Robert Sigl nicht nehmen, einen höchst informativen Audiokommentar einzusprechen. Wer nicht so viel Zeit hat, sich diesen anzuhören, dem sei hier ausdrücklich das charmante und ausgesprochen spannende Interview „Robert Sigl erzählt..“ ans Herz gelegt. Hier wird Sigl vom (ebenfalls einer Wiederentdeckung harrenden) Filmemacher Eckhart Schmidt zu „Laurin“ und seiner Karriere befragt. Dieses ist mit 30 Minuten fast noch zu kurz ausgefallen, dann man könnte Herrn Sigl noch stundenlang zuhören. Aber für die weniger Eiligen gibt es ja noch den bereits erwähnten Audiokommentar. Auch Sigls früher Kurzfilm “Der Weihnachtsbaum” ist in dieser Edition enthalten. Sehr aufschlussreich und kurzweilig sind auch die Interviews mit Dóra Szinetár, Barnabás Tóth und dem Kameramann Nyika Jancsó, die noch einige weitere Aspekte des Drehs beleuchten und davon erzählen, wie es im Leben der drei nach „Laurin“ weiterging. Spannend auch die Interviews mit den Filmhistorikern Jonathan Rigby und Olaf Möller. Rigby höre ich immer gerne zu und liebe seine – im übrigen höchstempfehlenswerte – Bücher über die Geschichte des Horrorfilms. Besonders begeistert hat mich aber Olaf Möller und seine ruhige, aber gleichzeitig sehr enthusiastische Art über „Laurin“ zu erzählen. Auch hier hätte ich noch stundenlang zuhören können. Sehr erhellend waren auch die „Deleted Scenes“ (die leider nur in einer schlechten VHS-Qualität vorlagen) mit dem Kommentar von Robert Sigl, weshalb sie herausgeschnitten wurden und wo er sich wünschte, sie wieder in den Film einbauen zu können – und wo nicht. Ein wundervolles Zeitdokument ist ein 9-minütiger Ausschnitt aus einer Fernsehsendung, die über die Dreharbeiten zu „Laurin“ berichtete und die Vision von einem neuen, europäischen Horrorfilm entwirft, mit „Laurin“ als Saatkorn. Eine Vision, die leider nie wahr wurde. Aufnahmen von der Verleihung des Bayrischen Filmpreis an Robert Sigl und Setfotos runden diese perfekte Veröffentlichung ab. Nicht zu vernachlässigen ist natürlich auch das gewohnt informative Booklet, welches einen Einführungstext von Robert Sigl selber enthält, sowie eine Filmanalyse von Markus Stiglegger und ein Interview, welches Stiglegger Mitte der 90er Jahre mit Sigl für die legendäre (und schmerzlich vermisste) „Splatting Image“ führte.

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