Blu-ray-Rezension: „Milano Kaliber 9“

Ein dilettantischer durchgeführter Raubüberfall hat Ugo Piazza (Gastone Moschin) hinter Gitter gebracht. Wegen guter Führung wird er nach drei Jahren entlassen und umgehend von seinen alten Kumpanen in Empfang genommen. Kurz vor Ugos Verhaftung verschwanden nämlich 300.000 US-Dollar und der Mailander Gangsterboss „der Amerikaner“ (Lionel Stander) hat Ugo in Verdacht, diese beiseite geschafft zu haben. Nun wird Ugo Schritt auf Tritt von dem Schläger Rocco (Mario Adorf) und seinen Leuten verfolgt, die versuchen ihn unter Druck zu setzen. Doch Ugo scheint sich nur nach einem ruhigen Leben mit der wunderschönen Nelly (Barbara Bouchet) zu sehnen. Doch der Druck auf Ugo wächst und schon bald sieht er sich gezwungen, wieder für den „Amerikaner“ zu arbeiten. Doch gleich der erste Job geht schief, und die Leichen fangen sich an zu türmen…

Anmerkung: Alle Screenshots stammen von der ebenfalls enthaltenen DVD, nicht der Blu-ray.

Milano Kaliber 9“ ist für mich ein besonderer Film. Es war damals der Film, der mich in das Genre des Poliziottesco, des italienischen Polizeifilms, einführte. Der mich von der ersten Sekunde lang mitgerissen hat. Mich nicht wieder losließ und noch lange nach dem Schlussbild beschäftigte. Der zu meiner Messlatte für alle weiteren Poliziotteschi wurde und welche vielleicht in wenigen glücklichen Fällen erreicht, nie jedoch überboten wurde. Dabei hatte es der Film bei mir zunächst nicht leicht. Angefixt durch das Buch „Der Terror führt Regie“ von Karsten Thurau und Michael Cholewa, welches ich irgendwann um 1999 herum auf einer Filmbörse mitgenommen hatte (wenn mich mein Gedächtnis nicht ganz trügt), waren meine Erwartungen an den Film schon extrem hoch. „Der Terror führt Regie“ damals das erste Buch in Deutschland, welches sich überhaupt mit dem Poliziottesco beschäftigte und von daher für mich ein sehr wichtiges Werk, denn es eröffnete mir ein Genre, mit welchem ich mich bisher noch nicht beschäftigt hatte. Das war noch in einer Zeit, in der das Internet zwar schon Einzug in das allgemeine Leben hielt, aber Filmfreunde tatsächlich noch ihr Wissen noch vor allem aus den – spärlichen – Publikationen zum Thema europäisches Genrekino speisten. Der Säulenheiliger des Autoren-Duos war Fernando di Leo, sein zentrale Meisterwerk „Milano Kaliber 9“.

Dann hatte ich endlich „Milano Kaliber 9“ im Videorekorder. Eine Kopie des alten deutschen VHS-Tapes. Vielleicht die zweite oder dritte. Ich weiß gar nicht mehr, wo ich die her hatte, das Bild war jedenfalls noch erstaunlich gut. Da war man zu den wilden, prä-DVD-Zeiten auch anderes gewohnt – was man aber ohne viel Murren schluckte, nur um endlich mal den begehrten Titel, über den man zuvor nur mal irgendwas gelesen hatte, sehen zu können. Egal wie. Und, holla, allein der Anfang von „Milano Kaliber 9“ hatte es dermaßen in sich, dass ich den Film auch dann als Meisterwerk tituliert hätte, würde der Rest aus Schwarzbild bestanden haben. Diese furiose Montage, in der in nur fünf Minuten zu der kongenialen Musik von Luis Bacalov die Geschichte eines fehlgeschlagenen Geldschmuggels und den brutalen Konsequenzen erzählt wird, gehört bis heute für mich zu den großartigsten Filmanfängen aller Zeit. Gleich ganz oben dort mit jenem von Orson Welles‘ „Im Zeichen des Bösen“ oder Leones „Spiel mit das Lied vom Tod“. Vor einigen Jahren gab es im Bremer Kommunalkino mal kurzzeitig ein kleine Gruppe, die sich in regelmäßigen Abständen traf, um Filme anhand von Filmausschnitten vorzustellen und zu diskutieren. Leider habe ich es nur einmal geschafft, an dieser kurzlebigen Veranstaltung teilzunehmen. Das Thema war „Filmanfänge“. Ich hatte natürlich „Milano Kaliber 9“ im Gepäck und danach war es sehr ruhig im Raum und man sah viele heruntergeklappte Kinnladen. Bildungsauftrag erfüllt.

Nun ist „Milano Kaliber 9“ bei filmArt erstmals in Deutschland in HD erschienen. Zeit Mailand mal wieder einen Besuch abzustatten, nachdem ich den Film nun schon längere Zeit nicht mehr gesehen hatte. Und was war das für ein Wiedersehen. Wie beim ersten Mal traf mich die Rasanz und Gewalt der ersten Minuten wie ein Hammer. Mario Adorf liefert in seiner Darstellung des Rocco eine der besten Leistungen seiner an überragenden Darstellungen nicht gerade armen Karriere ab. Er spielt nicht, er ist. Dieses schleimig-einschmeichelnde, dass in der nächsten Sekunde in erschreckend rohe Brutalität umschlägt. Hier der narzisstische Clown mit den viel zu großen Gesten, dort der hitzköpfige, aber in der Wahl seiner Mittel erschreckend kontrollierte Gewaltmensch. Und am Ende die einzig ehrliche Figur in diesem Film Noir voller Intrigen, Masken und Machtspielchen. Rocco mag ein extrem gefährlicher, stets gewaltbereiter Schläger sein, dem ein Menschenleben nichts bedeutet. Der ohne mit der Wimper zu zucken wortwörtlich über Leichen geht. Aber er gibt niemals vor, jemand anderer zu sein als der, der er ist. Rocco ist immer Rocco, womit er sich von den anderen Figuren in dieser Geschichte unterscheidet.

Überhaupt diese Schauspieler, die Regisseur und Autor Fernando di Leo für sein Poliziottesco-Debüt zusammengetrommelt hat. Allen vorweg der unglaubliche Gastone Moschin, der ein wenig an eine primitivere Version von Jason Statham erinnert. Er versprüht pure Körperlichkeit, wenn er seinen massiven Leib, dieses unbewegte, wie festgemeißelte, grobschlächtige Gesicht durch Mailand schiebt. In jeder Szene nimmt er sich einfach den Raum, den er braucht – ohne dass er sich groß anstrengen müsste. Es ist fast nicht zu glauben, dass dieser aus grobem Fels gehauene Mann auch in der leichten Muse daheim war. Zwei Jahre zuvor hatte er so wunderbar einen spleenigen, britischen Landpolizisten in Michele Lupos schönen „Konzert für eine Pistole“ gespielt und im selben Jahr wie „Milano Kaliber 9“ gab er als Nachfolger von Fernandel (der während der Dreharbeiten verstarb) den Don Camillo! Übrigens mit „Kaliber 9“-Gegenspieler Lionel Stander als Peppone. Um gegen diese Naturgewalt anzuspielen, braucht es ganz besondere Schauspieler, und die Leo hat sie. Neben dem fantastischen Mario Adorf quasi als Gegenentwurf zu Moschins Ugo Piazza, ist da der alt gewordene Philippe Leroy als Killer im Ruhestand. Ruhig, überlegt und von einer schweren Melancholie durchzogen. Frank Wolff, als wütender Kommissar mit althergebrachten, faschistischen Ansichten. Urgestein Lionel Stander als Gangsterboss „Amerikaner“ – irgendwo zwischen Güte und knallharter Skrupellosigkeit. Und letztendlich auch die göttliche Barbara Bouchet in der Rolle ihres Lebens. Von ihrem ersten Auftritt als Erotik-Tänzerin – der niemanden auf dem Sitz halten dürfte – bis hin zum großen Finale, als sich plötzlich ihr schönes Gesicht in eine gierige Hexenfratze verwandelt.

Aber was wären diese tollen Schauspieler und die souveräne Regie Fernando di Leos ohne seine anderen Mitstreiter, die aus „Milano Kaliber 9“ solch einen kraftvollen, unvergesslichen Film gemacht haben. Ohne Kameramann Franco Villa (dessen Lied man nicht laut genug singen kann, wie ich es bereits anlässlich des Western „Mörder des Klans“ tat, wo dieser viel zu unbekannte Meister hinter der Kamera bereits sein großes Können zeigte. Schade, dass er später im Bodensatz des italienischen Exploitationkinos versank), der genau weiß, wie man mit den Schatten spielt. Wie man den Eindruck einer Szene noch verstärken kann, indem die Kamera leicht in die Untersicht gebracht wird bringt. Der im richtigen Moment ganz nah dran an den Gesichtern und Figuren ist. Der Mailand diese raue, triste Antlitz verleiht. Ohne Amedeo Giomini, der mit seinem Schnitt den Actionszenen diese unerhörte Dynamik gibt. Und natürlich – die Musik. Was Luis Bacalov zusammen mit der Prog-Rock-Gruppe Osanna hier zum Film beisteuert, hebt diesen noch einmal auf ein ganz anderes Level. Ein Soundtrack für die Ewigkeit. Wie bei der eingangs beschrieben Geldübergabe mit jedem Wechsel der Träger die Musik von neuem anschwillt und aus den Boxen birst – das geht unter die Haut. Oder jene Musik, welche Barbara Bouchets erotischen Auftritt begleitet. Melodien für die Ewigkeit. Schade, dass der tollen Veröffentlichung nicht auch noch der Soundtrack beiliegt. Aber das ist schon ein sehr hehrer Wunsch. Man muss filmArt dankbar sein, dass „Milano Kaliber 9“ nun in einem hervorragenden HD-Bild vorliegt, welches all die großen Qualitäten dieses Meisterwerkes noch einmal deutlich hervorhebt.

Ein zeitloser Klassiker des italienischen Gangsterfilms. Keine Maurizio-Merli-Haudrauf-Action, sondern ein desillusionierter Film Noir, bei dem alles stimmt. Von den überragenden Schauspielern bis zur aufpeitschenden Musik. Selten was das ausgelutschte Wort vom „Muss see“ so angebracht wie hier.

„Milano Kaliber 9“ ist die Jubiläumsnummer 10 der „Polizieschi Edition“ aus dem Hause filmArt und endlich mal wieder ein echtes Schwergewicht. Die Scheibe kommt als Blu-ray-/DVD-Kombi daher und hat den Film in der ungekürzten Originalfassung (102 Minuten, die Stellen ohne Synchronisation wurden untertitelt) und der deutschen Kinofassung (95 Minuten) daher. Bild und Ton sind sehr gut. Positiv sei vermerkt, dass der Film bei aller Brillanz seinen „Kinolook“ behält und somit lebendig und nicht totgefiltert aussieht. Beim deutschen Ton hat man allerdings das Gefühl, dass hier etwas zu viel Atmo raus gefiltert wurde. Das klingt manchmal etwas flach. Sehr angenehm und informativ ist die 15-minütige Einführung in den Film, in der Prof. Dr. Marcus Stiglegger das am film beteiligte Personal vorstellt. Sehr interessant sind auch die halbstündige Dokumentation „Calibro 9“ – quasi ein Making-Of – und das 39 Minuten lange Featurette „Fernando DiLeo – Die Entstehung des Genres“ in dem Fernando di Leo über seine lange Karriere Auskunft gibt. Beide Features befinden sich auch auf der Raro-Veröffentlichungen (USA und Italien). Leider wurde auf das Feature „Scerbanenco noir“ (über den Autoren der Vorlage), welches in den internationalen Veröffentlichungen auch enthalten war, hierzulande verzichtet. Ferner sind noch Trailer (leider nicht der deutsche), ein Musik-Video der Gruppe Salem’s Pop (welches zu der Tanz-Szene mit Barbara Bouchet das Hauptthema des Filmes remixt, verfremdet und mit vielen Scratch-Effekten versieht – ist nicht so mein Ding) und ein sogenanntes Artbook mit dem kompletten deutschen Kinoaushang.

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