Buch-Rezension: John Waters “Carsick“

carsickMit dem Begriff „Kult-Regisseur“ wird (viel zu) oft um sich geworfen. Doch es gibt einen Mann, der dieses Prädikat mit vollem Recht für sich beanspruchen kann: John Waters. Waters ist beinahe schon selbst ein eigenes Filmgenre, und insbesondere seine frühen Filme kann man mit Fug und Recht als „einzigartig“ betiteln. Mit dem Mitternachtskino-Erfolg „Pink Flamingos“ und den darauf folgenden „Female Trouble“ und „Desperate Living“ verschob er die Grenzen des guten Geschmacks so sehr, dass die Filme für manchen zu echten Belastungstests wurden. Wer einmal das „singende Arschloch“ aus „Pink Flamingos“ oder die berühmte Szene, in der Divine hinter einem Hund herläuft, um dessen Exkremente zu verspeisen gesehen hat, der weiß, wovon ich rede. Erst Anfang der 80er wurde Waters etwas ruhiger. Nach dem Übergangswerk „Polyester“ (wieder mit seiner Muse Divine und der netten Erfindung Odorama – einer Rubbelkarte, die einen für die jeweilige Filmszene speziellen – und nicht immer feinen – Geruch verströmt) kam er mit dem für seine Verhältnisse enorm erfolgreichen Film „Hairspray“ beim Mainstream an. Wobei Mainstream vielleicht schon zu hoch gegriffen ist, da sich Waters auch hier kontroverser Themen und einiger wunderbaren Entgleisungen bediente – dies aber sehr viel massenkompatibler als in seinen vorangegangenen Filme. Mit wunderbaren, leichter verdaulichen, aber immer noch gerne fest zubeißenden Filmen ging es weiter. In „Cry Baby“ gab er dem jungen Johnny Depp eine erste Kino-Hauptrolle, in „Serial Mom“ durfte Kathleen Turner als „perfekte Mutter“ Leute morden, die ihren Müll nicht ordnungsgemäß trennen. Mit seinem bislang letzten Film „A Dirty Shame“ – einer Farce um Sexsüchtige – wandte er sich dann wieder mehr seinen Wurzeln zu, allerdings weigehend ohne deren ungeheuerlichen Geschmacklosigkeiten. In den USA ist John Waters durch zahlreiche TV-Auftritte, seine herausragende Rolle als unermüdlicher Kämpfer für die Rechte Homosexueller, Bücher und Stand-Up-Comedy-Shows sehr viel bekannter als hierzulande. Eine Tatsache, die einem erst so richtig bewusst wird, wenn man sein jüngstes Buch, „Carsick“ gelesen hat. Interessanterweise erst sein drittes Buch, welches auf deutsch veröffentlicht wurde (nach „Schock“ von 1982 und „Abartig“ von 1997).

Für „Carsick“ unternahm John Waters ein Experiment. Er fuhr per Anhalter von seinem Zuhause in Baltimore zu seinem Appartement in San Francisco. Um sich geistig auf diese Fahrt vorzubereiten entwarf Waters vorher zwei Szenarien, die er mit „Das Beste, was mir passieren kann“ und „Das Schlimmste, was mir passieren kann“ überschrieb. Diese beiden Novellen stehen dem realen Erlebnisbericht vor und geben einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt des Filmemachers. Zudem streut Waters einige nette Anekdoten über seine Schauspieler und Kollegen in die fiktiven Geschichten. Am Ende des Buches dankt Waters seinen Sekretärinnen und schreibt, eine von ihnen hat ihm gestanden, dass sie nicht so ganz den Unterschied zwischen dem „Besten“ und dem „Schlimmsten“ erkannt hätte. Und tatsächlich wimmelt es in beiden Novellen nur so vor Wahnsinnigen, Mördern und „Perversen“. Mit dem feinen Unterschied, dass diese in dem „Besten“ Figuren sind, die direkt aus Waters Filmen entsprungen sein können. Da gibt es masturbierende Bankräuber, einen magischen Anus, Pillen einwerfende Polizisten, Waters hat Sex mit einem Crashcar-Fetischisten und am Ende erwartet ihn eine neue Liebe. Bei dem „Schlechtesten“ Dingen kreuzen zwar ebenfalls skurrile und bizarre Gestalten seinen Weg, doch dies sind die Töchter von sadistischen Mädchenmörderinnen, wahnsinnige Kindesentführer oder fanatische Fans. Unterhaltsam sind beide Novellen, nur besitzt die zweite einen stark beunruhigenden Unterton, der einen zutiefst frösteln lässt. Letztendlich zeigen beide Novellen aber auch sehr eindrücklich, wo für Waters der Unterschied zwischen Gutem (lebensbejahender Irrsinn) und Schlechtem (lebensverneinender Irrsinn) liegt.

Nach diesen beiden fiktiven Fahrten wird es ernst und Waters stellt sich tatsächlich an die nächste Straße und hält den Daumen raus. Und natürlich hat die Realität wenig mit seiner überbordenden Fantasie zu tun. Tatsächlich besteht die meiste Zeit aus Warten. Nur selten hält ein Auto an und nimmt Waters mit. Und wenn, dann ist es auch häufig jemand, der ihn erkannt wurde. Man darf davon ausgehen, dass es einem Anhalter aus der anonymen Masse da noch schlechter ergangen wäre. Trotzdem beschreibt Waters auch diesen Abschnitt des Buches humorvoll, immer interessant und auch sehr entlarvend. Waters macht keinen Hehl daraus, dass er sich gegenüber seinen aus der Ferne auf ihn aufpassenden Sekretärinnen wie eine Primadonna verhält, zu Panikattacken neigt und jedem versucht unter die Nase zu reiben, wer er ist. Inklusive einer leichte Enttäuschung, wenn man ihn nicht kennt. Aber diese Schwächen machen ihn nur sympathisch und so ist dieser Abschnitt des Buches – auch wenn der actionreiche Wahnsinn der beiden Novellen komplett fehlt – der spannendste Teil des Buches. Denn die Leute, die Waters mitnehmen, sind real und allesamt sehr freundlich und aufgeschlossen. Und es ist höchst interessant zu lesen, dass sie zwar im Gegensatz zu Waters fiktiven Autofahrern ganz normal sind und trotzdem absolut einzigartig. Man kann mit Waters Augen einen kleinen Blick in ihr Leben werfen, bevor sie dann wieder auf dem Highway des Lebens verschwinden. Ob Waters es schafft, im wahren Leben San Francisco zu erreichen, sei an dieser Stelle nicht verraten. Wohl aber, das „Carsick“ ein Buch ist, welches Spaß macht und insbesondere in den ersten beiden Teilen das unendliche Warten auf einen neuen John-Waters-Film erleichtert. Auch, wenn mir der letzte, eher unspektakuläre Teil sogar noch besser gefallen hat.

John Waters “Carsick – Meine unglaubliche Reise per Anhalter durch Amerika“, Ullstein extra Verlag, 368 Seiten, € 14,99

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