DVD-Rezension: „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“

Die beiden Klosterschülerinnen Anne (Jeanne Goupil) und Lore (Catherine Wagener) haben ein sehr inniges Verhältnis zueinander und sind von dem Bösen fasziniert. Auch die Sommerferien verbringen die Beiden zusammen. Annes Eltern sind ohne sie in den Urlaub gefahren und Lores Eltern kümmern sich nicht sonderlich um ihre Tochter. Gemeinsam radeln Anne und Lore durch die schöne Landschaft und hecken teuflische Bösartigkeiten aus…

Den Wunsch „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ kann man in diesem blasphemischen Film von 1971 durchaus ernst nehmen. Denn das dringlichste Ziel seiner beiden Protagonistinnen ist es, böse zu sein und sich dadurch von traditionellen, repressiven Systemen wie der Kirche zu lösen.

„Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ ist damit das perfekte Begleitstück zu dem tschechischen Nouvelle-Vague-Film „Tausendschönchen“, den das vorbildliche Label Bildstörung bereits im Juli veröffentlicht hatte (Besprechung hier). Hier wie dort geht es um zwei junge Mädchen, die beschließen, nicht mehr nach den Regeln zu spielen und „verdorben“ bzw. „böse“ zu sein. Doch konnte man Marie und Marie im tschechischen Film aufgrund ihrer Kindlichkeit und hemmungslosen Lebensfreude noch Sympathien entgegen bringen, fällt dies bei Anne und Lore schon schwerer. Marie und Marie begründen ihre Rebellion gegen alles noch damit, dass die Welt verdorben sei. Bei Anne und Lore werden zwar die bigotte und unterdrückende Kirche sowie die gleichgültigen Eltern als Motive herangezogen, doch die kompromisslose Bösartigkeit der Beiden scheint durch beides nicht unbedingt gerechtfertigt.

Auch ist ihre Rebellion keine anarchistische Revolte von unten. Anne stammt aus einer reichen Aristokraten-Familie und auch Lore stammt aus einem mittelständischen, guten Elternhaus. Statt nun aber wie soziale Rebellen gegen gesellschaftliche Zwänge und bürgerliche Konventionen aufzubegehren, müssen vor allem die Armen und Schwachen unter ihren Boshaftigkeiten leiden. Ein – von ihnen im Vorfeld schon als Trottel deklarierter – Bauer wird erst von ihnen vorsätzlich zu einem sexuellen Übergriff gereizt, später zünden sie seine Ernte an und amüsieren sich über seine Familie, die sie heimlich als dumm und hässlich beschimpfen. Noch verstörender ist es, wie sie mit einem offensichtlich geistig zurückgebliebenen Diener umgehen, dessen geliebte Vögel sie langsam und qualvoll töten. Der Todeskampf eines Kanarienvogels und das todtraurige Gesicht des Dieners, wenn er seinen gefiederten Freund tot vorfindet, stechen einem direkt ins Herz.

Ebenfalls schwer zu ertragen ist eine Stelle, in der die Mädchen kichernd aus dem Roman „Die Gesänge des Maldoro“ von Lautréamont vorlesen, in dem die Hauptfigur detailliert seine Lust ein Baby zu quälen beschreibt. Diese radikale Abkehr von allem was als „Gut“ bezeichnet wird, macht den Film zu einem gut gezielten Tritt gegen das Schienbein und hinterfragt auf hinterhältige Weise die Faszination des Bösen. Woher kommt es? Wie kann es im Familienschoß unbemerkt erblühen? Die Langeweile des Familienlebens und die Heuchelei der Kirche allein können das brutale, eiskalte Verhalten der Mädchen nicht rechtfertigen. Zumal gerade die Kirchenmänner und -frauen als Witzfiguren und wenig bedrohlich daherkommen. Können vielleicht Bücher mit bösen Gedanken die Seelen Heranwachsender verderben, wenn Kirche und Familie den Acker für die giftige Saat bereiten? Antworten gibt Regisseur und Drehbuchautor Joël Séria keine, und so wirkt das Handeln der Mädchen – die immer aktiv auf ihre Umwelt Einfluss nehmen und mit spielerischer Freude deren dunkelste Begierden hervorkitzeln – nicht irgendwo niedlich (wie in „Tausendschönchen“), sondern wirklich bedrohlich und zutiefst verstörend.

Auch fühlt man sich als Zuschauer sehr unbehaglich, wenn die Mädchen sich entblößen und die Männer aufreizend necken. Zwar waren die Hauptdarstellerinnen Jeanne Goupil und Catherine Wagener zum Zeitpunkt des Drehs bereits 19 und 21, aber sie wirken sehr viel jünger, wie höchstens 14, und damit als frühreife Lolitas ausgesprochen glaubwürdig. Insbesondere Jeanne Goupil als Anne ist ein Naturtalent. Sie, die zuvor nie etwas mit Film zu tun hatte, spielt in „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ so natürlich, verführerisch und hintergründig, dass es einem gleichzeitig fröstelt und in der Magengrube kribbelt. Dagegen kann Catherine Wagener, die Schauspiel gelernt hat, nicht anspielen. Überhaupt hat sie die undankbarere Rolle. Ihre Lore wird, wie der ganze Film, von Anne dominiert. Die Beziehung zwischen beiden ist keine gleichberechtigte Liebschaft, sondern eine Beziehung durch Abhängigkeiten. Anne genießt es, Lore zu manipulieren, Macht über sie auszuüben. Auch wenn sie es Lore nicht direkt spüren lässt. Lore wiederum ist fasziniert von der – auch gesellschaftlich höher stehenden – Anne und lässt sich bereitwillig auf den passiven Part ein. Bezeichnend dafür sind zwei Szenen, in denen Anne Lore mutwillig in Gefahr bringt. Wenn sie den Bauern soweit gereizt haben, dass er über Lore herfällt, verschwindet Anne und treibt lieber die Kühe von der Weide, als ihrer Freundin beizustehen. Auch in der Szene, die zum Mord führt – und die Bauern-Szene spiegelt – sorgt sie dafür, dass Lore mit einem sexuell aufgeheizten Mann alleine bleibt und dessen Opfer wird. Warum tut sie das? Weil sie ihre Lust daraus zieht zu dominieren, zu manipulieren und zu kontrollieren. Wie sie es als Spross einer herrschenden Familie gelernt hat. Sie ist keine rebellische Jeanne D’Arc, sondern eher ein mordender Gilles de Rais.

Man merkt Joël Sérias Erstlingswerk seine Leidenschaft und Wut an. Wie Anne und Lore besitzt auch der Regisseur eine Lust am Zerstören und sei es nur die Moralvorstellung der Zuschauer. In einem, auf der DVD als Extra enthaltenen, Interview räumt er ein, dass der Film viele autobiographische Elemente enthält. Aber auch ohne dieses Wissen merkt man seine Leidenschaft und unbedingten Zwang, diese Geschichte genauso zu erzählen, wie er es tut. Ohne Kompromisse.

Dadurch ist „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ zu einem kleinen, leider fast vergessenen, Meisterwerk geworden, welches stark von der überzeugenden Jeanne Goupil in ihrer ersten Filmrolle geprägt wird. Aber auch darüber hinaus findet der Film hinterhältige Bilder, die sich aufgrund ihrer verführerischen Schönheit ins Gehirn des Zuschauers einfräsen und dort ihre giftige Saat hinterlassen. Fast könnte man bei diesem Film von der Schnittstelle zwischen „Tausendschönchen“ und „Ein Kind zu töten“ (ebenfalls bei Bildstörung erscheinen) sprechen.

Neben dem erwähnten 15-minütigen Interview finden sich auf der wie immer vorbildlich ausgestatteten Bildstörung-DVD noch die beiden Dokumentationen „Advokat des Teufels“ – ein 12-minütiges Interview mit Jeanne Goupil – und „Höllische Kreaturen“ (ebenfalls 12 Minuten), in dem der Autor Paul Buck über die Gemeinsamkeiten der Filmhandlung und dem realen Mordfall Pauline Parker/Juliet Hulme (von Peter Jackson als „Heavenly Creatures“ mit Kate Winslet verfilmt) spricht. Wie auch das Interview, sind diese Extras der US-amerikanischen „Don’t Deliver Us From Evil“-Ausgabe aus dem Hause Mondo Macabro entnommen.

Eine deutsche Tonspur liegt nicht vor, obwohl in dem Interview mit Joël Séria eine Kinoauswertung in Deutschland erwähnt wird. Im Gegensatz zu den „Bildstörung“-Veröffentlichungen davor, gibt es diesmal keine Limited Edition mit dem Soundtrack. Was schade ist, denn Claude Germain und Dominique Neys Musik ist wirklich ein wunderschöner Ohrwurm.

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